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Katharina Höhnk

Barbara Ketcham Wheaton & die Entschlüsselung der Kochbücher

Die beharrliche Entschlüsselung der Kochbücher

Von Ursula Heinzelmann

Die meisten von uns müssen über den Sinn und Zweck von Kochbüchern nicht lange nachdenken. Wir erwarten von ihnen mehr oder weniger genaue, möglichst bunt bebilderte Anleitungen oder Anregungen für unsere Aktivitäten in der Küche, sei es für den nächsten Snack, das Abendessen oder ein großes Festmahl mit Freunden. Oftmals dienen sie auch nur einem hypothetischen Ausflug in besternte kulinarische Gefilde, die wir mit den eigenen Töpfen und Pfannen wahrscheinlich nie betreten werden.

Für Barbara Ketcham Wheaton hingegen stellen Kochbücher Schlüssel zu längst vergangenen, fernen und fremden Welten dar. Sie liest in ihnen, als wären sie eine Kombination aus Charles Dickens, Emile Zola und einem Geschichtslexikon, und sie entlockt ihnen erstaunliche Dinge. Die 78-jährige amerikanische Food-Historikerin forscht seit Jahrzehnten am Radcliffe Institute der Harvard University in Cambridge/Massachusetts, wo sie auch gelegentlich in der Schlesinger Library Seminare unter dem Titel Reading Historic Cookbooks: A Structured Approach anbietet.

Die knapp 20 Plätze Anfang Juni dieses Jahres waren heiß begehrt, und so sind wir eine bunt gemischte Gruppe: Arvind Borde ist Mathematik- und Physikprofessor hier an der Ostküste mit dem Schwerpunkt Relativitätstheorie, William Rubel freier Wissenschaftler und leidenschaftlicher Gärtner aus Santa Cruz/Kalifornien, Harlan Walker pensionierter Ingenieur aus England. Die Food-Journalistin Irene Sax schreibt für renommierte Zeitungen in New York City, Cindy Koenig Richards lehrt und forscht auf dem Gebiet Frauenrecht an der Willamette University in Oregon, und der Franzose Richard Delerins hat sich an der UCLA in das Thema Ernährung und Genetik verbissen.

Die Vielfalt macht das Seminar noch spannender. Bereits am Ende des ersten der fünf intensiven Studientage ist klar, dass Barbara Ketcham Wheatons Art, Kochbücher zu lesen, tatsächlich einen ungeahnten, extrem spannenden und sehr plastischen Zugang zur Vergangenheit bietet. Es ist ein Eintauchen in die Fremde mit Hilfe des vertrauten Mediums Kochen. »Versetzen Sie sich an die Stelle der beteiligten Menschen, in ihr Denken, ihren Körper«, fordert sie uns auf. »Wie fühlt es sich an, diesen Kupfertopf vom Regal zu heben, übers Feuer zu hängen, darin zu rühren, die Suppe aus ihm auszuleeren, ihn zu säubern und wieder ins Regal zu hieven? Was bedeutet es, dieses Stück Fleisch am Tisch zu tranchieren? Was für Zutaten stehen Ihnen überhaupt zur Verfügung? Wo kommen sie her? Wie ist Ihre eigene soziale Stellung? Welche Aufgaben fallen Frauen zu, welche Männern? Und auf der konsumierenden Seite: Stellen Sie sich ein Essen in seiner Gesamtheit vor – wie geht es da zu?«

Vielschichtige Betrachtung

Grundlegendes Prinzip bei dieser Art des Lesens ist die vielschichtige Betrachtung eines bestimmten Kochbuchs wie mit einem Zoom-Objektiv: Angefangen beim Detail der Zutaten weitet sich das Bild über die Räumlichkeiten der Küche, die angewandten Methoden und Gerätschaften hin zu sämtlichen Eckdaten eines Essens inklusive der Beschaffung der Zutaten und der Verwertung der Reste, bis es schließlich zum Worldview wird, dem großen, soziohistorischen Kontext. Auf dem Weg dahin helfen auch Fragen zum Buch als Gegenstand: »Wer konnte es sich leisten? In welcher Auflage erschien es? Was hat das konkrete Exem­plar, das Sie in den Händen halten, erlebt, seit es die Druckerei verlassen hat?« Die Bücher, mit denen wir uns beschäftigen, reichen vom alten Mittelenglisch des 14. bis ins ernährungswissenschaftlich geprägte 19. Jahrhundert, doch die Methode lässt sich natürlich ausweiten. Dank Wheatons structured approach betrachte ich die Rezeptbände in meinen Regalen mit ganz neuen Augen, obgleich ich sie schon unzählige Male in der Hand gehabt habe: Ich denke beim Dr. Oetker Schulkochbuch an die Wirtschaftswunderjahre und bei Henriette Davidis an wohlgeordnete bürgerliche Esszimmer. Aber ob ich ihnen je so erstaunliche, bahnbrechende Dinge entlocken werde, wie es Wheaton im Fall der klassischen französischen Küche gelungen ist?

Barbara Ketcham Wheaton

„Wenn Sie einem Buch etwas Verborgenes entlocken wollen, dann müssen Sie es völlig unerwartet überraschen!“

Ich bin der unprätentiösen, zierlichen Frau mit der großen Brille vor den wasserblauen Augen erstmals im September 2003 im englischen Oxford begegnet. Als akademisch recht unbeleckte und auch journalistisch uner­fahrene Erstteilnehmerin des Oxford Symposium on Food & Cookery  sah ich meinem Vortrag über Kinderkochbücher ziemlich nervös entgegen – ich wäre am liebsten gleich wieder abgereist. Das überraschend heftige Stottern von Jeffrey Steingarten, dem alles essenden amerikanischen Erfolgsautor und Redner des Einführungsabends, machte die Sache nicht gerade besser. Doch während des Empfangs danach, mit einem Glas Wein in der Hand, sprach mich Wheaton in ihrer direkten Art an und verlieh mir das Gefühl, willkommen, geschätzt und anerkannt zu sein. Sie sagte, sie leite die Runde, in der mein Vortrag angesetzt war, und sei höchst gespannt. Ihre beinahe kindliche, dabei ganz unsentimentale, an der Sache orientierte Begeisterung stellte für mich – wie für unzählige angehende Food-Historiker vor und nach mir – eine entscheidende Weiche, die mir eine neue intellektuelle Heimat eröffnete und ohne die ich zweifellos hier jetzt nicht schreiben würde.

Ursprung im Radcliffe Institute

Barbara Wheaton ist heute eine anerkannte Spezialistin für historische Kochbücher, doch die Anerkennung, ja sogar Duldung ihres Gebiets hat sie sich erkämpfen müssen. Es ist bezeichnend, dass sie seit den 1960er-Jahren forscht, ihre Arbeit aber erst seit 1990 offiziell durch den Titel Honorary Curator of the Culinary Collection at the Schlesinger Library at the Radcliffe Institute for Advanced Study anerkannt wurde. Das 1879 gegründete Radcliffe war ursprünglich ein unabhängiges, geisteswissenschaftlich orientiertes Frauencollege, das 1999 Harvard angeschlossen wurde.

Die Schlesinger Library begann 1943 damit, dass eine ehemalige Studentin die Women’s Rights Collection spendete. Daraus entwickelte sich besonders in den 60er- und 70er-Jahren eine angesehene Sammlung zum Thema Frauenrechte. Doch so wie sich in dieser Zeit eine ganze Generation von Frauen vom Kochen empört und entschieden distanzierte, waren auch Kochbücher vielen akademischen Feministinnen ein Dorn im emanzipierten Auge – die wenigen vorhandenen Exemplare fristeten anfangs ein nur grimmig geduldetes, unbeachtetes Dasein. Es ist zweifellos Wheatons Beharrlichkeit zu verdanken, dass Schlesinger heute auch für Kulinarik steht.

Hartnäckiges, ja sogar begeistertes Gegen-den-Strom-Schwimmen liegt ihr, als etwas eigen bis schräg oder sogar unbequem betrachtet zu werden, stellt in ihren Augen nahezu ein Kompliment dar. »Die wirkliche Welt ist ein Durcheinander«, wird sie von einer früheren Seminarteilnehmerin zitiert. Dass es ihr gelungen ist, Kochbüchern die verdiente akademische Anerkennung zu verschaffen, beruht auch auf ihrer Fähigkeit, trotz aller Hartnäckigkeit flexibel und offen für neue Möglichkeiten zu sein. Anfänglich hatte die einzige Tochter wohlsituierter Eltern die Süßwasserbiologie als Mittel erkoren, den gesellschaftlichen Erwartungen der High Society zu entkommen und sich für ein entsprechendes College, Mount Hol­yoke in Massachusetts, entschieden.

Praxis & Theorie

Doch 1952, in den Sommermonaten unmittelbar vor dem Studienantritt, unternahmen die Eltern mit ihr eine Grand Tour durch Europa. »Es war fantastisch«, erzählt sie noch heute mit glänzenden Augen, »wir waren in Skandinavien, Frankfurt, Köln, München, Salzburg, Paris … Ich habe mich förmlich in Museen gesuhlt. Und das hat mir die Augen geöffnet.« Zurück in den USA ging sie wie geplant nach Hol­yoke, schrieb sich dort aber für Kunstgeschichte ein und wechselte ein Jahr später ans Radcliffe. Dann folgte eine weitere Planänderung, diesmal eine sehr frauentypische: Statt sich ganz der Kunstgeschichte zu widmen, heiratete sie. Ihr Mann, Robert Wheaton, brachte als Historiker die kulturelle und künstlerische Welt der Herzöge von Burgund mit in ihr gemeinsames Leben. »Margarete von Österreich«, sagt seine Frau ohne eine Spur von Vorwurf, »ist sozusagen die Dritte in unserer Ehe.«

Bald nach der Heirat zogen sie in die Niederlande, wo Margarete von Österreich Anfang des 16. Jahrhunderts lange Zeit habsburgische Statthalterin war. Während Robert seinen Studien nachging, kümmerte sich Barbara um Kinder und Haushalt. »Vor meiner College-Zeit konnte ich überhaupt nicht kochen, aber ich fand schnell heraus, dass mir das Praktische daran lag.« Die Kombination von Praxis und Beschäftigung mit der Theorie weckte ihre wissenschaftliche Neugier: »Ich begann, mir Fragen zu den Rezepten zu stellen und sie in ihre Zeit und an ihren Ursprungsort zu setzen. Statt sie wörtlich zu lesen, versuchte ich, sie als kulturelle Artefakte und historische Dokumente zu betrachten, die Zeugnis über ihre Zeit und ihre Herkunft ablegen. Aber ich habe lange gebraucht, um den Code zu knacken, der dreidimensional ist wie der eines Zauberwürfels.«

Im Kontext der Zeit

In Cambridge empfängt sie uns mit den Worten: »Ich betrachte es als meine Aufgabe, Ihr gewohntes Verhältnis zu Kochbüchern in den kommenden Tagen gründlich zu erschüttern!« Man müsse diese Bücher mit ihrer Zeit verknüpfen, sagt sie dann. Oft sei zum Beispiel gerade das gekocht oder gegessen worden, was nicht erwähnt wird, weil es ganz selbstverständlich war, wie etwa Salzkartoffeln oder Brot. Oder ein Rezept wird in einem Kochbuch aus Gewohnheit aufgeführt, obwohl es längst aus der Mode gekommen ist, wie heutzutage zum Beispiel die Béchamelsauce. Wir arbeiten in den fünf Tagen ausschließlich mit Büchern aus ihrer eigenen, beeindruckenden Sammlung.

»Seit Langem kaufe ich überall Kochbücher«, bekennt sie, und ein Teil von ihr ist zweifellos die Bibliothekarin, die alte Bücher als wertvolle Zeitzeugen liebt. Doch ein anderer Teil von ihr sieht sie als Gebrauchsgegenstand und steht mit denselben Büchern ganz selbstverständlich am Herd. Wer je in der Rara-Kollektion einer Bibliothek gearbeitet hat, weiß, wie pingelig und empfindlich die Hüter dieser Schätze normalerweise sind – höchstens ein Bleistift ist erlaubt für Notizen, an Trinken oder gar Essen, während man die Bücher studiert, ist nicht zu denken. Barbara Wheatons Bücher hingegen studieren wir bei Kaffee, Tee und mittags Sandwichs und Pizza. Während ihrer Zeit in den Niederlanden stieß sie auf La bonne Cuisine de Mme de Saint-Ange, ein 1927 erschienenes Standardwerk der französischen bürgerlichen Küche. Die französische Küche und ihre Geschichte wurden zu ihrem Spezialgebiet. Während ihre drei Kinder in Kindergarten und Schule versorgt waren, saß Wheaton in Bibliotheken und versuchte, den Ursachen der erstaunlichen kulinarischen Entwicklung Frankreichs auf die Spur zu kommen.

Noch im späten Mittelalter glich die französische Küche der anderer westeuropäischer Länder – im Prinzip handelte es sich um eine international recht einheitliche Küche, die sich an den Höfen abspielte. Gegen Ende des 16. und noch deutlicher Mitte des 17. Jahrhunderts lassen sich jedoch die Anfänge der heutigen klassischen französischen Küche erkennen. Im 18. Jahrhundert stand Frankreich in der westlichen Welt in dem Ruf, die besten Köche und das beste Essen in ganz Europa zu bieten. Wie kam es zu dieser besonderen Stellung?

In Fachkreisen wurde (und wird nach wie vor oft) Katharina von Medici als Erklärung herangezogen. Die Florentinerin heiratete 1533 den Duc d’Orléans, den späteren französischen König Heinrich II. Sie soll mit den Köchen aus ihrem Gefolge die anspruchsvolle Küche und zivilisierte Tischsitten aus Italien nach Frankreich gebracht haben. Doch Wheaton überzeugte diese These nicht. Sie ging den Spuren in den Originalmanuskripten nach und beschäftigte sich nach ihrer Rückkehr aus den Niederlanden mit mittelalterlichen französischen, englischen, deutschen und italienischen Werken.

Dann zog die Familie Mitte der 60er für zwei Jahre nach Paris, und sie vergrub sich so oft wie möglich in der Bibliothèque Nationale. Parallel dazu besuchte sie beinahe ein Jahr lang zweimal wöchentlich die Kurse der ursprünglich von der Amerikanerin Julia Child gegründeten Kochschule École des Trois Gourmandes, um noch vertrauter mit der klassischen französischen Küche zu werden. »Ohne die Praxis lässt sich die Theorie nicht verstehen«, sagt sie.

Cassoulet!

Als wir uns vor dem Seminar an einem Sonntagnachmittag treffen, zeigt sie mir voller Begeisterung das überaus reichhaltige Angebot an Obst, Gemüse, Fleisch und Käse der Wilson Farm, einem Hofladen von Supermarktausmaßen auf halbem Weg zwischen Cambridge und ihrem Wohnort Concord – und beklagt dabei, dass sie gerade keinen Anlass zum Kochen habe, da ihr Mann im Krankenhaus sei. Allgemein verliere das Kochen zu Hause an Terrain. »Wir haben immer alle zivilisiert um einen Tisch gegessen«, betont sie. Forschung und Alltagsleben gehören für sie zusammen. Nach ihren Lieblingsgerichten befragt, nennt sie geschmortes oder gebratenes Fleisch und Geflügel, immer an die französische Küche angelehnt, und vor allem Cassoulet: Die Winter in Boston seien lang und kalt.

Nach ihrer Rückkehr aus Paris hatte sie in kurzer Zeit den begrenzten Fundus an Kochbüchern in Harvard durchgearbeitet. Dann lernte sie Julia Child kennen, die durch ihr 1961 veröffentlichtes und immens erfolgreiches Kochbuch Mastering the Art of French Cooking und die darauf basierende Fernsehshow bereits eine Berühmtheit war, mit ihrem Mann in Cambridge wohnte und über eine bedeutende Kochbuchsammlung verfügte. Sie lud die zwanzig Jahre jüngere Wheaton großzügig ein, vorbeizukommen. »Sehr verschüchtert ging ich hin«, erzählt sie, »und die Sache wurde nicht einfacher dadurch, dass Julia Child ausgesprochen großgewachsen war und ich ziemlich klein! Aber sie war enorm freundlich und hilfsbereit und gab mir, als sie mit ihrem Mann für einige Zeit nach Kalifornien fuhr, einfach ihre Haus­schlüssel …« Auf Wheatons Vermittlung vermachte Julia Child ihre Sammlung der Schlesinger Library, nachdem ihre eigene Alma Mater kein Interesse gezeigt hatte.

„Werden wir jetzt zur Kochschule?“

Am Radcliffe sorgte ihre großzügige Gabe 1968 ebenfalls nicht unbedingt für Jubel. »Werden wir jetzt zur Kochschule?«, protestierte so manche Ex-Studentin empört. Wheaton forschte unbeirrt weiter an ihrem Thema. Inzwischen war sie überzeugt, dass die übliche Geschichte von Katharina von Medici als Stifterin der kulinarischen Vormacht Frankreichs ein Mythos sein musste. Gänzlich unerschrocken und mit der Gewissenhaftigkeit der Forscherin erhob sie 1975 öffentlich Einspruch, als der renommierte Food-Journalist Craig Claiborne in seiner Gastrokolumne De Gustibus in der New York Times die alte Medici-Legende voller Überzeugung wiedergab. Drei Wochen später druckte er ihren Leserbrief ab:

»Während meiner geschichtlichen Forschungen hier und in Frankreich zur gehobenen Küche Europas habe ich zwölf Jahre lang erfolglos versucht, diese Köche aufzuspüren. Ich habe keine Erwähnungen oder Referenzen vor der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gefunden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Katharina Köche mitbrachte, als sie 1533 nach Frankreich kam, weil bedeutende Menschen mit großem Gefolge reisten, zu dem immer auch Köche gehörten. Aber ich bin auf keinen Bericht über sie oder ihren Einfluss aus dem 16. Jahrhundert gestoßen. Damalige Beobachter des französischen Hofs wie Brantôme und Pierre de L’Estoile erzählen uns viel über Katharina, aber ihrer Tafel scheinen sie keine besondere Bedeutung beizumessen.

Während der ersten 14 kinderlosen, isolierten Jahre am französischen Hof war sie nicht in der Lage, Geschmack und Moden zu beeinflussen, das tat die Maîtresse ihres Mannes, Diane de Poitiers. Von den vielen Zutaten, die Katharina angeblich mit nach Frankreich brachte, waren die meisten bereits eingeführt. Nur im Fall der Crème frangipane habe ich ein italienisches Rezept gefunden, das früher als alle französischen datiert ist, und es hieß Crema Francese – französische Creme.

Frühere italienische Einflüsse sind durchaus belegt. Zwei Auflagen eines italienischen Kochbuchs, Platinas De honesta Voluptate, waren bereits in Frankreich übersetzt erschienen, eine vor Katharinas Geburt, die zweite, als sie noch ein Kleinkind war. Zweifellos waren italienische Köche in Frankreich tätig, die Kultur Italiens war hoch angesehen und Handwerker vieler Zünfte kamen während dieses Jahrhunderts nach Frankreich. Doch diese Strömung hatte lange vor Katharinas Geburt eingesetzt, als die französischen Könige und der Adel nach einer Reihe von Kriegen auf italienischem Boden mit der Renaissance konfrontiert worden waren.

Chevalier de Jaucourt

Offensichtlich verdanken wir den Ursprung der Legende von Katharinas Köchen dem Chevalier de Jaucourt, einem umtriebigen Mitarbeiter von Diderots Encyclopédie. Er schrieb dort verächtlich, Frankreich habe sein Wissen um ›la bonne chère‹ (die gute Küche) den transalpinen Köchen zu verdanken, die sich in Frankreich niederließen: ›Das ist eines der geringsten Dinge, die wir dieser Bande korrupter Italiener schulden, die am Hofe Katharina de Medicis dienten.‹  Nach diesem kleinen Anfang haben nachfolgende Schriftsteller dem Gepäck in Katharinas Gefolge viele andere an­geb­liche Teile beigefügt: Feuerwerk, Sy­philis, Petersilie, Sorbets, Parfüm und verschiedene Stickereiformen, keines davon ist jedoch erwiesen. Nichtsdesto­trotz ist die Legende von Katharina de Me­dicis Köchen in der französischen Gastroliteratur wohl etabliert. Skeptiker können darüber in vielen anerkannten Werken lesen, etwa im Larousse Gas­tro­nomique, in Dr. Gottschalks Histoire de l’Alimentation und in den Werken von Raymond Oliver.«

Ihr Buch, mit dem sie ihre These untermauerte, erschien erst acht Jahre später, 1983. »Ich hasse das Schreiben«, bekennt sie zu meiner Überraschung. »Eigentlich war es nur die Rechtfertigung für die spannende Recherche. Geschrieben habe ich immer nur, wenn die Kinder in der Schule waren.«

In Savouring the Past. The French Kitchen and Table from 1300 to 1789 (London, Chatto & Windus) präsentierte sie ihre eigene Antwort auf die Frage nach den Hintergründen der französischen Küche: die Entwicklung von systematischen Produktionsabläufen und Grundzubereitungen, die Ressourcen, Energie und Kreativität bündelten. Das Standardwerk fand auch in französischen Fachkreisen Anerkennung. Im April 1985 gewann sie damit den Prix Littéraire des Relais Gourmands, der im wahrsten Sinne des Wortes ganz ihrem Geschmack entsprach: Ein ganzes Jahr lang durfte sie sich durch die Restaurants der Vereinigung Relais et Châteaux essen und trinken. Auf zwei ausgedehnten Europareisen studierte sie so die moderne französische Küche: Alain Chapel, Georges Vonnas, Pic, Père Bise, Bernard Loiseau… Inzwischen besitzt die Aufzählung ihrer Stationen historischen Charakter.

Was gab schließlich den Ausschlag zu Wheatons Ernennung zur Kuratorin ehrenhalber der kulinarischen Sammlung? »Ach«, sagt sie bescheiden, beinahe etwas verlegen, »ich war einfach schon so lange da und hatte immer dezidierte Ansichten… « Durch ihre Kontakte und Kenntnisse hat sie die Sammlung entscheidend geprägt, nicht zuletzt vor Kurzem mit dem Kauf dreier deutscher Bücher: einer Ausgabe von 1679 des Kochbuchs von Anna Wecker, dem ersten in Europa von einer Frau veröffentlichten Kochbuch, Carl Friedrich von Rumohrs Geist der Kochkunst und einer Erstausgabe des 1723 erschienenen Brandenburgischen Kochbuchs von Marie Sophie Schellhammer.

Wie mir Marylène Altieri berichtet, die seit 2004 als Kuratorin für den gesamten Printbestand der Bibliothek verantwortlich ist, ist Wheaton auch ohne Lehrauftrag grundsätzlich montags in der Bibliothek anwesend, steht interessierten Studenten zur Verfügung und begleitet regelmäßig Doktorarbeiten.

Alles!

Und was macht sie sonst noch außerhalb ihrer Seminare – sich mit 78 allmählich zur Ruhe setzen? »Auf gar keinen Fall«, kommt die beinahe entrüstete Antwort. »Seit ich endlich herausgefunden habe, was man Kochbüchern alles entlocken kann, möchte ich sie alle erforschen und entschlüsseln!« Seit Jahren dränge sie ihren Mann, gemeinsam in einen betreuten Altersruhesitz umzuziehen, wo sie mehr Zeit für ihre Studien hätte. Sie arbeitet seit langem an einer Datenbank namens The Cook’s Oracle, in der sich historische Kochbücher unter allen möglichen (und ziemlich unmöglichen) Parametern durchsuchen lassen. Begonnen hat sie damit bereits in den 60er-Jahren, erst auf Kartei- und dann auf Lochkarten. Heute verwendet sie ein spezielles Programm, das selbst mein hochmoderner Mac-Computer nicht unterstützt.

So wie sie angebliche Tatsachen unerschrocken hinterfragt, zeigt sie auch keinerlei Berührungsängste mit der modernen Technik. Ihr Interesse an Computern reicht weiter zurück als bei den meisten von uns: »In den Siebzigern kam eine Zeit, als ich das Gefühl hatte, zwischen der Literatur des 18. Jahrhunderts und Science-Fiction hin und her zu hetzen«, erklärt sie mir. »Schließlich beschloss ich, in meiner eigenen Zeit zu leben. Ich entschied, mehr über Computer zu lernen, um nicht mehr herumgeschubst zu werden, sondern selbstständig agieren zu können. Also las ich alles über Computer, was ich auftreiben konnte, fand es sehr interessant und trat der Boston Computer Society bei.«

Heute ist Wheaton mit iPod-Stöpseln im Ohr an ihrem Laptop oder mit ihrem E-Book auf dem Campus ein vertrauter Anblick. Desgleichen erzählt sie mit der ihr eigenen Begeisterung von ihrer Mitarbeit beim Counter Intelligence Programm des MIT Media Lab, einer Fakultät des Massachusetts Institute of Technology, die das Aufeinandertreffen von Mensch und Maschine und den Computereinsatz in der Praxis im weitesten Sinne erforscht. Ihr Beitrag für eine Küche der Zukunft war ein Gerät, das auf Knopfdruck das benötigte Geschirr aus recycelbarem Material pressen und auswerfen kann.

Bei aller Beharrlichkeit ist das kulinarische Studium in Wheatons Gesellschaft nie eine vorhersehbare, trockene oder übermäßig ernste Angelegenheit. »Wenn Sie einem Buch etwas Verborgenes entlocken wollen«, sagt sie, »dann müssen Sie es völlig unerwartet überraschen!« Und auf alles gefasst sein.

Der Artikel „Die beharrliche Entschlüsselung der Kochbücher“ von Ursula Heinzelmann erschien in der Zeitschrift Effilee – Magazin für Essen und Leben (12/2009) und wurde Valentinas freundlicherweise zur Zweitverwertung kostenlos überlassen. Danke!

Veröffentlicht im Januar 2010

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