Drei Sterne: Hat Stärken, aber überzeugt nicht ganz.
Die Büchse (S. 83) qualmt noch. Und das Tier, das bis vor wenigen Augenblicken vor ihrem Lauf gestanden haben muss, ist tot. Blattschuss! Und kaum anders kann man es nennen, wenn eine gerade 30-Jährige ein Buch zu nichts als Wildfleisch schreibt. Und zwar jenseits von Braten, Gulasch und Ragout.
Vielen hätte man das – Wild! 2020! So! – sicherlich ausgeredet. Allen, außer Viktoria Fuchs (Foto unten). Spätestens seit sie, die Tochter des großen Wildkochs Karl-Josef, 2015 die Küche im familieneigenen Romantikhotel Spielweg übernahm, ist sie der Szene ein Begriff. Weil junge Küchenchefinnen nach wie vor eine Seltenheit sind – in der guten und gehobenen Gastronomie zumal. Weil sie, die von Douce Steiner lernte und nach Stationen bei Ali Güngörmüs, Harald Rüssel und Mario Paecke, ihre ganz eigene Art hat, an das kulinarische Familienerbe anzuknüpfen. Und weil Exzellenz und Hemdsärmeligkeit bei ihr so charmant einhergehen, dass man sie eigentlich nur mögen kann.
Gestatten: Familie Fuchs!
Wobei das im Prinzip für alle „Füchse“ gilt, denn der Spielweg bleibt ein Familiending: Vikis Schwester Kristin managt den Hotelbetrieb, während Mutter Sabine über Service und Garten wacht. Vater Karl-Josef versorgt die hauseigene Wurst- und Käserei und Großmutter Jodi als „guter Geist“ irgendwie alle. Und dann wäre da noch Johannes, Vikis Freund, der nicht nur fix zu ihrem Küchenteam gehört, sondern ihr als „Jäger und Sammler“ obendrein manche Zutat liefert (sie selbst jagt nämlich nicht). Vieles, was da im Münstertal auf den Tisch kommt, hat bisweilen Stunden zuvor noch im Schwarzwald gestanden.
Womit wir beim vielleicht entscheidenden Punkt wären – dem Wie und Warum „wilder“ Küche. Derweil die konventionelle Lebensmittelindustrie von einem Skandal zum nächsten taumelt, erscheint vielen das, was weitgehend unbehandelt durch Feld, Wald und Wiese kreucht, als „echte“ Alternative. Klar: Der Maronenröhrlinge sollten es – Cäsium – nicht zu viele sein, und auch in Sachen Hirsch & Co. sind ordentliche Bezugsquellen gefragt. Dennoch: Wer trotz Klimawandels sein Tier auf dem Teller nicht missen mag, darf sich halbwegs guten Gewissens beim Jäger bedienen.
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Mehr Wild-Kochbücher bei Valentinas
Wenn sich jetzt ungute Erinnerungen an trockene Hirschkeulen und bleischwere Hasen regen: Keine Sorge! Wo schon Karl-Josef die Türen seiner Wildküche weit in Richtung Gegenwart aufstieß, geht Viki noch einen Schritt weiter. Ihr Herz schlägt laut für die Aromen und Garmethoden Asiens und es kommt nicht von ungefähr, dass Wildschwein-Dim-Sum zu ihrem Signature Dish avancierten.
Wild – weltgewandt
Auch für die findet sich im Buch ein Rezept – neben Tom Kha Gai mit Reh (Kapitel: „Wild asiatisch“), „Rehtello“ tonnato („Wild mediterran“), Gamsrücken mit Schmor-Aubergine und Granatapfel-Couscous („Wild kreativ“) oder klassischem rosa Rehrücken („Spielweg-Klassiker“).
Die Agentur „Oh, Ja!“ hat für diesen Mix aus Tradition und Moderne ein Layout gefunden, das perfekt zwischen Zeitgeist und Klassizismus balanciert und die eingestreuten „Wild-Exkurse“ nahtlos integriert. Die mehrfach ausgezeichnete Food-Fotografin Vivi D’Angelo hat mit ihrer Kamera kongenial draufgehalten: wenn das Reh am Haken hängt oder der Morgen über dem Mittelgebirge, wo es der Wildsau an den Kragen geht oder ein Jäger auf die Pirsch.
Fuchsteufelswild, indeed!
Und noch etwas zeigen ihre Fotos: Wir haben es hier mit allem zu tun – nicht aber mit Alltagsküche. Viele der Rezepte brauchen ein gerüttelt Maß an Vorausschau und Planung. Entweder, weil Zutaten wie Rebhühner oder Pulpo zu besorgen sind, weil vorab Fonds angesetzt oder gar Schinken reifen müssen (Wildschweincoppa) oder weil sich die Zubereitung an sich über Stunden hinzieht. Das gilt beispielsweise für erwähnte Dim Sum, die für mich der Hauptgrund waren, mir dieses Buch zu sichern. Ich wollte endlich wissen, wie schmeckt, wovon die Welt so schwärmt!
Viktoria Fuchs:
„Ich bin mit der Wildküche ausgewachsen. Kaum einer hat sie so sehr geprägt wie mein Vater, der als Koch und Jäger schon angefangen hat, Wildgerichte neu zu interpretieren. Nun belebe ich sie mit meinen Erfahrungen aus dem gleichen Antrieb: der Wildküche ein neues Gesicht zu geben.“
Das Wildschwein schmurgelt dazu ausgiebig in Brühe, bis es, in feine Fasern zerfallen und ergänzt um Shiitake, Minze, Koriander, Sesam, Ingwer und Galgant, in Dim-Sum-Teig gehüllt zu glasig-schönen Dumplings dämpft. Das beschäftigte mich einen Weihnachtsfeiernachmittag lang – auch, weil Zutatenliste und Zubereitungsanweisungen an mancher Stelle Interpretationsspielraum lassen: Warum etwa bereiten wir das Wurzelgemüse gleich zu Beginn vor, wenn es frühestens andert- bis zweieinhalb Stunden später zum Einsatz kommt? Wieso wird manches in Gramm notiert, anderes aber ungenauer als „Bund“ Minze bzw. „Handvoll“ Ingwer? Gerade die beiden können – zu hoch dosiert – doch alles andere übertünchen! Und schließlich: Wie soll plusminus anderthalb Kilo fertige Wildschweinmasse in 16 Dim-Sum-Blätter passen, die mit je 20 Gramm gefüllt werden?
Rätsel!
Das war nicht die einzige Stelle, die mich vor derlei Rätsel stellte. Bis auf das Rezept für die wirklich grandiosen und simplen Wildschweinschnitzel in Haselnusspanade (= ein Erbe Karl-Josefs, vermute ich), bin ich beim Nachkochen überall über kleinere oder größere Fallstricke gestolpert. Dieses Buch verlangt definitiv nach sehr versierten Köch/innen, die im Zweifelsfall auf eigene Erfahrungswerte zurückgreifen – bei Zutatenmengen (Hefe!), Garzeiten, Konsistenzen, aber vor allem auch bei Abläufen und Aromenjustage. Ganz so „fuchsteufelswild“ hatte ich mir die Sache ehrlich gesagt nicht vorgestellt …
So sehr ich Vikis Erstling mögen möchte – für seinen Anspruch, die Kreativität, formidable Optik –, so schwer tue ich mich mit einer uneingeschränkten Empfehlung. Die Übersetzung von der Profiküche für den Hausgebrauch war mir persönlich an manchen Stellen doch zu grob. Und wenn es auch „so“ unheimlich viel Spaß macht, durch dieses Ideen-, Lese- und Bilderbuch zu blättern: Bevor ich mich weiter versuche, muss es definitiv ein Stopp im Spielweg sein, um Geschmacksreferenzen (und vielleicht den einen oder anderen Chefinnen-Tipp) einzuholen …
Veröffentlicht im Oktober 2021
Tolle Rezension, liebe Charlotte! Und so flott und schmissig geschrieben! 🙂
Die erwähnten Probleme finden sich leider immer häufiger, als dass sie weniger werden. Vielleicht liegt es ja an eingesparten Fach-Lektoraten.
Und ja, ein Besuch im „Spielweg“ lohnt sich unbedingt, zumal in der ganzen Gegend noch viele andere Orte für gepflegte Atzung (aber auch tolle Straußwirtschaften) zu finden sind.
Immer lohnenswert, wenn man es nicht ins Elsass zu Maître Antony schafft: Kauft Käse im Spielweg. Köstlich bis göttlich; ich liebe den „Münster“.