Drei Sterne: Hat Stärken, aber überzeugt nicht ganz.
Ein Physiker auf Genussexpedition: Thomas A. Vilgis ist bekannt für ungewöhnliche Geschmackskombinationen. Auch in seinem neuen Buch verspricht er ungeahnte kulinarische Erlebnisse – versteckt die dann aber gut in einer chaotischen Rezeptstruktur.
Ich habe neulich das schöne Buch „Eine Frage der Chemie“ von Bonnie Garmus gelesen. Darin geht es um die Chemikerin Elisabeth Zott, die in den 60er-Jahren ihren Job an der Uni verliert und durch einen Zufall zur Fernsehköchin wird. Doch statt Haushaltstipps gibt sie Chemieunterricht und macht Kochen zum großen Laborexperiment.

An dieses Buch musste ich sofort denken, als ich durch Thomas A. Vilgis’ Buch „Der Genussforscher“ blätterte. Vilgis selbst (Foto links) ist im eigentlichen Beruf Physiker und leitet am Max-Planck-Institut für Polymerforschung in Mainz eine Arbeitsgruppe für analytische Theorie weicher Materie. Eines seiner Forschungsgebiete ist „Soft Matter Food Physics“, in dem es um physikalische Aspekte des Essens inklusive Zutaten und Zubereitung geht.
Dunkelviolett – Rosa
Vilgis gibt gern schmissige Interviews (auch Valentinas), in denen er von der Kombination von Weißkohl und Vanille schwärmt und dafür wirbt, dem Essen tiefer auf die Spur zu kommen – mit Hilfe von Physik. Nun verbinde ich mit dem Begriff Genuss eher einen Jamie Oliver, der durch die Straßen Italiens schlendert und sich von den herzlichen Nonnas das Pastamachen beibringen lässt. Vollbeladene Tische, brodelnde Töpfe, Bilder von Märkten.
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„Der Genussforscher“ setzt dagegen auf ein sehr puristisch elegantes Cover, ein Stück Wurst, ein Stück Fisch, eine aufgeschnittene Zitrone und eine einzelne Lavendelblüte. Darüber das Versprechen: „Mit ungewöhnlichen Rezepten zu ungeahnten Geschmackserlebnissen“ – immerhin dieser Satz ist opulent.
Sortiert sind die Rezepte nach Farben – fünf Kapitel fächert Vilgis auf diese Weise auf. Was auf Instagram viel hermacht und bei Büchern im Regal ja wenigstens noch schön anzuschauen ist, macht für eine Gliederung leider für mich wenig Sinn: Schließlich schlägt niemand, der Klippfisch am Spieß zubereiten will, zunächst das „Weiß-Silber“-Kapitel auf, oder sucht nach Mexikanischen Eiern in der Abteilung „Dunkelviolett-Rosa“.
So braucht es doch ein bisschen Zeit, sich durch das 230 Seiten starke Buch vorzuarbeiten – auch, weil Vilgis zwischen die Rezepte kleine naturwissenschaftliche Lektionen packt: Da erklärt er die osmotische Wirkung von Salz und Zucker beim Beizen oder warum Acrylamid gar nicht so gefährlich ist, wie die EU behauptet. Allesamt nette Anekdoten, die das Buch zu einem schönen Schmöker machen, einem Lehrbuch der gemütlichen Art.
Tabakbirnen
Doch neben der Theorie gibt es ja auch Praxisübungen in diesem Gourmet-Physikbuch, schließlich will ich im heimischen Küchenlabor ja auch diese „ungeahnten Geschmackserlebnisse“ erzeugen. Nun muss ich vorwegschicken, dass ich mich weder an die „Stierwade, aromatisiert und zugenäht“ noch an den „Umami-Sake-Kaffee für rohen Fisch“ oder die „Fischbauchstäbchen“ herangewagt habe – vielleicht wären all diese Rezepte ein ungeahnter Genuss geworden.
Stattdessen habe ich eine solide „Paté vo dr Alb ra“, ein wunderbar cremiges Aligot und die provenzalische Aubergine getestet – allesamt erwartbar lecker, aber keineswegs ungewöhnlich. Gelernt habe ich, dass Leberproteine eine ausgezeichnete Bindefähigkeit haben, allerdings keinesfalls über 70 Grad erhitzt werden sollten. Auch Auberginen sind temperaturempfindlich: werden sie zu kalt gelagert, treten Kälteschäden in den Zellmembranen auf. Genau das hätte Elisabeth Zott in ihrer Fernsehsendung wohl auch erzählt.
So begibt sich der Genussforscher über weite Strecken auf die Spuren der klassischen französischen Küche und mischt ein bisschen Physik- und Chemieunterricht bei. Das ist immer spannend, meistens lecker, aber nie wirklich für mich nachvollziehbar: Eine klarer Aufbau hätte dem kulinarischen Wissenschaftler sicherlich gut gestanden.
Veröffentlicht im März 2023