Fünf Sterne: Valentinas Liebling – zum Schwärmen gut.
Der erste Eindruck: Wow! Ich blättere für mein Leben gern in Kochbüchern. Aber selten war ich von einem Kochbuch bei der ersten Betrachtung so fasziniert wie von Stevan Pauls neuestem Werk.
Äußerlich kommt „Kochen.“ sehr elegant daher mit einem gräulichen-bunten Leinenumschlag, den ein eleganter, glänzend erhabener Prägedruck des Titels ziert. Die ersten Innenseiten und der Seitenschnitt sind in ungewöhnlichem Blau gestaltet. Das Buch sticht schon optisch hervor. Dazu noch durch sein Gewicht: ein richtig schwerer Schinken ist das (408 Seiten), der auch schon mengenmäßig den Betrachter fordert.
Hier erschlägt die große Materialmenge allerdings nicht, sie steigert eher noch die Freude des Betrachtens. Man kriegt nicht genug. Wunderschöne Bilder zu jedem Gericht, sehr schlicht fotografiert. Die Gerichte: Punktlandungen in der Jetztzeit des Kochens. Die Präsentation: sehr klar. Die Rezeptseiten sind unterteilt in grafisch gut komponierte Rezeptbausteine, häufig mit Varianten, oft mit Kochhinweisen und Verweisen. Am liebsten hätte ich sofort angefangen, Seite für Seite runterzukochen, so machbar und lecker scheint das alles zu sein.
Ein Allrounder – geht das heute noch?
Weitere Strukturen lassen ein Konzept vermuten. Neben den üblichen Kategorien in Anlehnung an die Menüfolge (Vorspeisen, Fisch- und Meeresfrüchte, Gemüse, Saucen & Fonds, Fleisch, Käse, Desserts) finden sich Komponenten wie „Kochtechnik“, „Geschmack“ und „Warenkunde“. Früher nannte man so etwas ein „Grundkochbuch“, ein all umfassendes Werk, das alle Aspekte des Kochens abdecken will. Das ist heutzutage gewagt. Kochen ist sehr komplex geworden. Kann das funktionieren?
Was mich aber vorneweg schon überzeugt, ist die Verankerung von Stevan Pauls Küche in der Zeit (links ein Foto des Autors). Es gibt in allen Kapiteln farblich abgesetzte „Basis-Rezepte“ und „Klassiker“, was zweierlei signalisiert: Für Stevan Paul fußt Kochen auf den Erfahrungen vergangener Generationen, ohne deren Wissen und Können keine Fortentwicklung möglich ist. Dass sie abgesetzt sind von dem größeren Rezeptrepertoire, zeigt umso deutlicher, dass Stevan Paul eben hier nicht stehen bleibt. Das spiegeln auch die Bereiche „Kochtechnik“ und „Geschmack“. Darüber hinaus signalisieren die Rezepte und die „Warenkunde“, dass ein zeitgemäßer Koch ein Weltbürger mit deutlichen lokalen Wurzeln und einem hohen Qualitätsbewusstsein ist. Neben der zeitlichen gibt es also auch eine geografische Verortung, die dem gleichen Gestus folgt und die mich komplett überzeugt.
Das alles unter einen Hut zu bringen und in eine funktionierende Form zu gießen, ist ein Mordsvorhaben, und doch sind all diese Aspekte unabdingbar für das heutige Kochen. Warum tut ein Autor sich das an?
Die Mission
Seine Mission formuliert Stevan Paul in der Einleitung: Er will Menschen wie Sie und mich wieder motivieren zum echten Kochen. Nichts Besonderes, mag man denken, tun das nicht alle Kochbücher? Aber eben nicht! Häufig muss man sich sklavisch an die Rezepte halten (man nehme!) und kann dann gucken, wie man das tolle Foto nachstylt, häufig mit mäßigem Erfolg. Stevan Paul will hingegen dem Benutzer seines Buches die Möglichkeit geben, Rezepte streng nachzukochen oder weiter zu entwickeln oder anders zu kombinieren, was das Ziel der Rezeptbausteine ist. Er will dem Leser/der Leserin Anleitung und Freiheit zugleich geben, ein Ritt auf der Rasierklinge. Trotzdem außerordentlich positiv, wenn man als emanzipierter Verbraucher ernst genommen wird und nicht nur als ahnungsloser Hilfskoch betrachtet wird, den viele Kochbuchautoren dennoch häufig gnadenlos überfordern.
Die Alltagsprobe
Und jetzt wird’s ernst: Kann das alles klappen? Funktioniert das in unserem Alltag? Wir hatten gerade Kimchi gemacht nach einem koreanischen Originalrezept (um dann in Pauls Buch auch eins zu finden!). Und dann stellt sich immer die Frage: Was tun damit? Klar kann man immerzu koreanisch kochen, aber viel spannender ist es doch, wenn Kimchi Eingang findet in unsere Küche.
Stevan Paul kombiniert Kimchi mit einem feinen Linsensalat, Honiggurken, gebratenem Feta und Rauchöl. Sensationell! Schnell gemacht, problemlos anzurichten, sah trotzdem toll aus. Unser erstes selbst gemachtes Kimchi wurde würdig umrahmt von wunderbaren Aromen und Texturen.
Dann stand für einen Festtag kaltes Fleisch mit Beilagen auf unserem Wunschzettel. Fündig wurden wir im Kochbuch mit Roastbeef, Krautsalat und Espresso-Speck-Mayonnaise. Wow! Krautsalat mit Spitzkohl und Meerrettich, fein, und dann diese Mayonnaise zum Fleisch – schmeckt einfach soo gut und ist dabei schnell und einfach herzustellen. Mir wurde klar: Auf die Kombination mit Speck und Espresso wäre ich selbst nie gekommen. Genau dafür benötige ich ein Kochbuch, das mir neue Ideen vermittelt. Das dort ansetzt, wo ich selbst nicht mehr weiterkann.
Schließlich suchten wir nach einer pfiffigen Idee für ein Resteessen nach Feiertagen: Käse-Polenta, Ofentomaten, Salsiccia, Bittersalate bot sich an. Total unaufwendig in der Herstellung, schnell gemacht, optisch und geschmacklich eine wunderschöne Kombi. Besonders der Bereich „Tipps/Varianten“ auf der Rezeptseite hilft in solchen Situationen sehr gut weiter, wenn man einen Teil der Zutaten vorrätig hat und Alternativen sucht z. B. für die nicht vorhandene Salsiccia. So stellt ein Buch nicht nur seine Alltagstauglichkeit unter Beweis, sondern es befreit auch von Rezeptzwängen und emanzipiert den Benutzer.
Ähnliche Qualitäten offenbarten sich bei der Erprobung von zwei Einzelgerichten, die ich der Rubrik „Klassiker“ zuordnen würde. Zugegeben, das Tocino de cielo, ein Karamelldessert mit 10 Eigelben und 2 ganzen Eiern, sieht auf dem Foto so göttlich aus, sodass es unser Weihnachtsdessert werden musste. Mit Alltag hat das eher wenig zu tun, dafür aber das untere Drittel der Seite, das 4 Rezepte für die Verwendung des Eiweißes auflistet. Übrigens ist das Dessert zwar sehr süß, aber wahrhaft himmlisch.
Und wenn man nun gerade keine Lust mehr hat zu umfänglichem Kochen mit mehreren Komponenten? Da bietet sich der gute alte Käsetoast mit Schinken an, bei Paul Stevan Ramequin (Käse-Toast-Auflauf), mit Sahne, Eiweiß und Wein verfeinert, in einer Viertelstunde auf dem Tisch.
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Auch in den anderen Fällen war unser Ausgangspunkt alltäglich, nämlich die Frage: Was kochen wir morgen? Was ist im Haus? Es wurde eine Tortilla-Zwiebel-Pizza an einem und gefüllte Paprika mit Paprikarahmsauce an einem anderen Tag. Beides neu für uns in diesen Varianten, beides gut zu machen und lecker. Und dann mal ein richtig üppiger Fleisch-Gemüse-Eintopf mit Linsen. Wunderbar! Fazit: gerade weil das Kochbuch so umfänglich ist, findet man immer etwas Passendes für den jeweiligen Alltagsbedarf, und das Ergebnis befriedigt durch Geschmack, Optik und angemessenen Aufwand.
Die andere Kochbuchliga
Während dieser überwiegend sehr lustvollen Kochvorgänge wurde mir allmählich klar, was die besondere Qualität dieses Kochbuchs ausmacht: Hier wird gegenwärtiges Wissen über Kochen, das sich in der Hochküche und der Ernährungswissenschaft entwickelt hat, angereichert durch aktuelle Haltungen zu Wert und Gesundheit von Lebensmitteln, systematisch und durchgehend auf die Alltagsküche heruntergebrochen. Heißt konkret: Pflanzliche Komponenten bekommen einen höheren Stellenwert, aber Fleisch und Fisch bleiben. Keine Angst (mehr) vor gutem Fett. Die Rezepte sind überwiegend Crossover-Gerichte und auch so angerichtet. Handwerkliche, gesundheitliche und geschmackliche Aspekte modernen Kochens sind in besonderen Kapiteln präsent und in die Rezepte eingearbeitet. Verschwendung von Lebensmitteln wird vorgebeugt.
Lust auf Kochen machen, wie der Autor es vorhat, kann man natürlich nur, wenn man all diese Aspekte auf dem Schirm hat und gleichzeitig Rezepte anbietet, die die Prinzipien der Hochküche kennen und auf das Machbare vereinfachen. Es sieht toll aus, es ist ohne großen Aufwand nachkochbar, es schmeckt prima.
Homecooks wollen in der Regel nicht wie Sterneköche kochen. Sie brauchen eine eigene Liga, aber die muss trotz aller Praktikabilität eine deutliche Weiterentwicklung in all diesen Bereichen auf der Grundlage der Klassiker markieren und muss ihre eigene Form von Kreativität entwickeln. Mag die Fülle der in diesem Kochbuch angebotenen Informationen vom Einzelnen gar nicht komplett verarbeitet werden können, so ist diese Liga hier in einer Weise in der Breite verwirklicht, dass mir nur ein Urteil bleibt: Dieses Kochbuch ist einfach grandios! Ich habe es gefunden: DAS Kochbuch für unsere Zeit.
Veröffentlicht im Juni 2020