Drei Sterne: Hat Stärken, aber überzeugt nicht ganz.
Meine Familie väterlicherseits gehört zu den Menschen, die irgendwann in die (heute) rumänische Bukowina auswanderten und dann im Zweiten Weltkrieg ihre Sachen packten und wieder nach Deutschland kamen. Viel von diesen Ursprüngen habe ich nicht erzählt bekommen, und außer dass mein Vater eine leidenschaftliche Abneigung gegen Polenta pflegt, weist wenig auf seine Verbindung zu der Region hin. Das Kochbuch „Am Herd meiner Oma – Familienrezepte aus Siebenbürgen“ über deren Küche machte mich daher sofort neugierig.

Wie meine ist auch die Familienbiografie des Autors Rainer Klutsch mit dem Karpatenstaat verbunden. Der ausgebildete Koch ist zwar in Stuttgart aufgewachsen, aber verbrachte die Sommer in Rumänien. Noch prägender für ihn war aber seine Oma Edith. Sie kam in den 1970er-Jahren aus Siebenbürgen nach Deutschland. Nach 1945 hatte sie vier schlimme Jahre in einem sowjetischen Arbeitslager verbracht, bevor sie nach Weidenbach – heute Ghimbav – zurückkehren durfte. Infolge der Diskriminierung durch das kommunistische Regime verließ sie schließlich Rumänien.
Oma Edith wurde eine wichtige Person für ihn, schreibt Klutsch eingangs in seinem Kochbuch. Es ist daher als ein Andenken an die 2019 Verstorbene zu verstehen. „Denn alles, was ich heute bin und wofür ich als Koch stehe, weiß ich von meiner Oma Edith. Ihre Wertschätzung für das Kleine, das Einfache prägt heute meinen Kochstil.“ Gleichzeitig verknüpft er damit die Anregung, in der familiären Rezept- und Geschichtentruhe zu stöbern.
Saisonale Hausmannskost
Das Kochbuch „Am Herd meiner Oma“ ist in vier Kapiteln entlang der Jahreszeiten eingeteilt, so wie auch die Oma Edith kochte. Das hatte praktische Gründe: „Die Siebenbürger Sachsen lebten häufig auf dem Land in kleinen Dörfern und mussten von dem leben, was ihnen die umliegende Natur zu bieten hatte.“
Zum Weiterlesen:
Webseite und Instagram des Autors
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Die Rezepte lesen sich kulinarisch deftig und schnörkellos, und auch, wenn meine Oma wenig gekocht hat, sehe ich sie beim Lesen der Rezepte dennoch vor mir – es könnten auch ihre Gerichte sein.
Für den Frühling gibt es Brennnesselspinat mit Spiegelei oder Dill-Kohlrabi-Fleisch mit Reis. Das Sommer-Kapitel offeriert als Rezepte Vinete, ein säuerliches Auberginenmus, und Ciorbă de perișoare, eine säuerliche Brühe mit Hackfleischbällchen. Im Herbst bleibe ich beim Rezept für Klettiten mit Früchtekompott hängen, das eine sächsische Antwort auf Crêpes sei.

Alle Rezepte sind wunderschön fotografiert, das Kochbuch ist bestückt mit atmosphärischen Landschaftsaufnahmen. Der Autor teilt seine Erinnerung an die Gerichte und informiert über die Geschichte. Es steckt viel Arbeit darin. Rainer Klutsch will nicht nur Rezepte vermitteln, sondern auch ein Gefühl, und das ist ihm wunderbar gelungen. Wenn ich seine Geschichten lese oder die Familienfotos betrachte, dann stehe ich mit seiner Oma Edith am Herd und kann nachvollziehen, wie sich das für ihn anfühlt. Ich bin berührt – und beeindruckt.
Rainer Klutsch:
„Für dieses Kochbuch müssen Sie nicht die schickste Küche und besten Küchengeräte besitzen oder die exotischsten Lebensmittel verwenden. Oma Edith, die 2019 mit 97 Jahren gestorben ist, kochte mit Liebe und viel Zeit – es hätte sie sicher gefreut, wenn sie ihre Grundsätze mit diesem Kochbuch verewigt gesehen hätte.“
Darf man Omas Rezepte kritisieren?
Das setzt sich fort beim Nachkochen der Rezepte, allerdings anders als erhofft. Womit wir bei einer grundsätzlichen Frage sind: Darf man Oma-Rezepte kritisieren? Nach reiflicher Überlegung denke ich, ja, man darf. Denn in diesem Fall hat nicht eine geliebte Oma familienintern Rezepte so nach Gefühl weitergegeben, sondern ein Profikoch hat sie für ein zeitgemäßes Kochbuch neu aufbereitet (oder eben nicht?) und in ein zeitgemäßes Leseformat gebracht. Und da ist einiges durchgerutscht, so dass ich leider so manches Mal stutzte und von den Rezeptanleitungen abweichen musste.
So soll ich 240 g Rundkornreis für das Dill-Kohlrabi-Fleisch in der dreifachen Menge Wasser kochen lassen. Da visualisiere ich Brei statt Reisnocken. Die Polenta für den Auflauf wird ohne nähere Mengenangabe in „Salzwasser“ gegart statt nach Packungsanleitung, ein ganzer Blechkuchen soll mit sparsamen 200 g Aprikosen (4-5 Früchte) belegt werden; ich habe öfter mal tief geseufzt.
Die erzählerische, informative und atmosphärische Umsetzung des Kochbuchs „Am Herd meiner Oma“ ist gelungen. Die Rezepte empfehle ich geübten Köch:innen, die mitdenken, sonst könnte es Enttäuschungen geben.
Veröffentlicht im Februar 2023