Vier Sterne: Ein Kochbuch, das zufrieden macht.
Kennen Sie den „Schönfelder“? Dieses große, rote, klobige Ding, das gut sichtbar in Kanzleien und Gerichtssälen steht und „Deutsche Gesetze“ beherbergt? Nun: Einen nahen Verwandten könnte es künftig in Ihrer Küche geben …
Erster Gedanke? Oh Gott. Als ich Niki Segnits Neuling zum ersten Mal in den Händen hielt, war ich schockiert. Anderthalb Kilo Papier, kreischend rot … wtf?!
Acht Jahre nach ihrem „Geschmacksthesaurus“, der 2010 durch die Decke ging – mit Übersetzungen in 14 Sprachen, viel Jubel und allen wichtigen Auszeichnungen der Branche –, hat die Britin (Foto links) zum zweiten Mal Grundlagenarbeit getan. So, wie sie einst 99 Aromen akribisch durchdeklinierte, tut sie es nun mit ganzen Gerichten: Was verbindet Fond, Brühe, Chowder, Dal und Risotto? Wie kommt man von Marzipan zu Nusssauce und Eintopf? Und was verwandelt Karamell in Fudge und Sirup in Sorbet und Gelee?
Kochen im Krebsgang
„Lateral cooking“ heißt das im Original – „seitwärts“ kochen. Und das beschreibt die Sache recht genau. Segnit hat im Laufe ihrer Küchenkarriere zwölf Spektren identifiziert, anhand derer sich ein Großteil unserer Grundrezepte nachvollziehen lässt: Jeder Schritt, jedes Blättern vor oder zurück bedeutet, eine Sache etwas fester oder flüssiger zu gestalten, etwas kompakter oder luftiger. Und wenn man einmal verstanden hat, wie X mit Y zusammenhängt, ist der Weg zum intuitiven, weil freihändigen Kochen nicht mehr weit. Erste Gehversuche kann man mit den im Buch „Spielräume“ genannten Variationen unternehmen oder den unter „Aromen & Abwandlungen“ versammelten Eskalationsstufen.
Segnit hat dazu wahnsinnig viel gelesen und recherchiert – und noch mehr getestet. Davon zeugt einerseits die stattliche Bibliografie am Schluss, vor allem aber jeder einzelne Text: 646 Seiten ohne Vorwort und Appendix sind es allein – unterbrochen nur von den schlicht-schönen Lebensmittel-Illustrationen aus den Händen von „A Practice For Everyday Life“. Diese Lexikalität überrascht nach dem ähnlich gearteten Aufbau des Thesaurus nicht, ist aber eine weitere Gesetzbuchassoziation. Eher visuelle Typen tun sich damit vielleicht schwer. Mir haben zum Rezepte-Heraussuchen tatsächlich manchmal appetitliche Foodfotos gefehlt – oder zumindest große, sprechende Titel. (Das gleiche „Problem“ hatte ich übrigens mit Segnits Thesaurus, weshalb ich den letztlich seltener nutzte als gehofft.) Dabei braucht es nichts als Zettel und Stift griffbereit neben sich, wenn man dieses Manifest an einer beliebigen Stelle aufschlägt und anfängt zu lesen:
„Griechische Fischer schlagen ihre Oktopusse so lange gegen Felsen, bis sie ganz weich sind. Frank Walter Lane bemerkt, dass die Inselbewohner in Honolulu ihren Fang zu demselben Zweck einem Schleudergang in der Waschmaschine unterziehen. Allen Oktopussen, die das lesen müssen, rate ich, nach Japan zu ziehen, dort immerhin erhalten sie vor dem Gekochtwerden eine Massage.“
Lernen mit Lachmuskeltraining
Das steht zum Beispiel auf Seite 266, als Beginn eines Hinweises auf Variationsmöglichkeiten von Brühe. Nicht nur, dass in Stephan Paulis Übersetzung kein bisschen von Segnits Sound verloren gegangen ist – die Nonchalance, mit der sie Witz und Wissen paart: sensationell! Einmal angefangen, bin ich selten unter 30 Minuten wieder rausgekommen – auf so hemdsärmelige Art dazuzulernen, macht einfach wahnsinnig viel Spaß (und manchmal: Bauchweh vor Lachen). Und wenn man beim Blättern gleich alles notiert, was „Nachkochen!“ schreit, steht man am Ende doch in der Küche.
Da allerdings… tja: Ich bin automatisch davon ausgegangen, dass das, was in Segnits Super-Schreibe großartig klingt, auch genauso großartig schmeckt. Zwei Mal hat das geklappt: Die Waffeln aus dem Rührteigkontinuum bestehen aus nichts als Sahne, Eiern, wenig Mehl und viiieeel Luft, was zu einer ziemlich idealen Textur und feinem Aroma führt.
Ähnlich simpel und super gerieten die irischen Gnocchi-Verwandten „Farls“. Aber wo war das Wow bei ihrer Fassung der „Gigantes plaki“, die ihre Freunde angeblich so lieben? Warum wurde der „braune“ Basmati zusammen mit Aubergine, Kichererbsen, Aprikose und Pinienkernen partout nicht weich? Und wieso verschwand der (großzügig dosierte!) Salbei in einer Bohnensuppe geschmacklich auf Nimmerwiedersehen? Dass das das kulinarische Fazit sein soll, mag ich nicht glauben – auf diesen vielen, vielen Seiten muss es noch andere Aromen-Ahas geben! Aber: ein kleiner Dämpfer meiner Begeisterung.
„Intutitiv kochen“ als Lese- und Lehrbuch verdient mehr als fünf Sterne – das ist großes Kulinarik-Kino. Und auch, wenn bei manchem notierten Rezept geschmacklich noch Luft nach oben ist: Erstens will uns Segnit eh zum freihändigen Kochen erziehen, und zweitens bin ich mir sehr sicher, dass sich die echten Kracher einfach nur gut verstecken …
Veröffentlicht im Mai 2020