Fünf Sterne: Valentinas Liebling – zum Schwärmen gut.
Der Koch als Kurator. So sollte die Überschrift des Kompendiums von Musa Dağdeviren eigentlich lauten. Der Autor hat es sich zur Aufgabe gemacht, die vielfältigen kulinarischen Traditionen und Einflüsse seines Heimatlandes zu sammeln und zu archivieren. In diesem Kochbuch gewährt er uns nun einen Einblick.
Schon vor dieser Rezeptesammlung war mir Musa Dağdeviren (Foto unten) bekannt – von der Serie Chef’s Table bei Netflix. Man spürt bereits dort seine Passion, die über die reine Kochfreude weit hinausgeht. Er hat ein echtes Anliegen. Regionale Esskultur und kulinarische Traditionen, die in Vergessenheit zu geraten drohen, will er bewahren. Neben seiner Tätigkeit als Gastronom ist er weltweit als Botschafter der türkischen Küche unterwegs.
Ich mag die türkische Küche, wenn ich dabei auch zunächst eher an die für uns gängigen Speisen denke, wie Köfte, Pide oder Menemen. Und freue mich, als ich den schweren, wertig-weinroten Band in den Händen halte. Es gibt zwölf Kapitel, die mit Suppen über Innereien, Pilaw bis Getränke breitgefächerte inhaltliche Schwerpunkte setzen. Es folgt abschließend ein Kapitel mit Rezepten von Gastköchen, Anmerkungen zur Vorratshaltung sowie ein Glossar und Register.
Kochbuch mit enzyklopädischen Charakter
Jedes Kapitel wird eingeführt durch Hintergrundinformationen, z. B. vor dem Backwaren-Kapitel über die türkische Teigkultur und Teigrituale. Ich merke schnell, dass dies kein reines Kochbuch ist, sondern beinahe enzyklopädischen Charakter hat und etwas mehr Aufmerksamkeit benötigt und verdient.
Mein Eindruck spiegelt sich auch in der Foodfotografie wieder. Die Bilder scheinen beinahe wie aus der Zeit gefallen, sind weder modern noch folkloristisch. Ruhige Stillleben, die ganz auf das Gericht fokussieren. Höchstens die unauffällige Musterung des Geschirrs lässt hier und da rückschließen, dass es sich um ein Kochbuch der orientalischen Küche handelt.
Die Rezeptauswahl fällt mir schließlich – trotz der Unmenge an Rezepten – gar nicht mal so leicht. Teils hapert es an der Verfügbarkeit der Zutaten wie nixtamalisierten Maiskörnern (mehr darüber hier) oder fein gehackter Malve. Oder den für die Zubereitung von Käse benötigten 5 Litern frischer Schafsmilch und 50 g Schafsblättermagen. Und es gibt einige Gerichte (nicht wenige), die für mich von vornherein aufgrund der Zutaten wegfallen: 600 g Hirn von großen Fischen, Ingredienzien für gefüllte Milzen, Mägen und Därme und immer wieder Lammschwanzfett, um nur einige zu nennen. Auch Gerichte wie gebackener Schafskopf, sautierte Leber und Lunge oder Suppe mit Ziegenfüßen stoßen deutlich an die Grenzen meiner kulinarischen Neugier.
Mein persönlicher Rezept-Knaller
Doch je mehr ich blättere, desto klarer wird mir: Dieses Kochbuch will und muss nicht gefallen. Denn die enthaltenen Rezepte haben sich bereits bewährt und ihr Publikum längst gefunden. Sie stehen für sich, sind gelebte (gekochte) Geschichte. Für mich sind sie dadurch teils jedoch nicht so leicht zugänglich, obwohl sie im eigentlichen Sinne Homecooking und außerdem noch Nose-to-tail sind. Denn zwar ist die Jagd nach unbekannten Lebensmitteln ein Teil des Kicks für den Foodie, aber dahinter muss die Idee eines kulinarischen Zugewinns stehen. Das war bei Fischhirn und Lammschwanzfett für mich nicht der Fall. Und Alternativen gibt Dağdeviren nicht an, das würde der Idee seiner Sammlung auch widersprechen.
Zum Weiterlesen
Website von Musa DaÄŸdeviren
Doch lässt man die „Spezialitäten“ beiseite, finden sich natürlich immer noch viele Rezepte, die sich leicht und gut nachkochen lassen. Dabei ist Dağdeviren ein sehr angenehmer Autor. In einer linken Spalte listet er sehr präzise (oft in genauen Grammangaben) die benötigten Zutaten, um rechts in wenigen Schritten die Zubereitung zu schildern. Sehr gerne habe ich auch die kurzen Einleitungen zu jedem Rezept gelesen. Wie z. B., dass keine türkische Mutter ihr Kind ohne die „trockenen Fleischbällchen“ zu einem Picknick gehen lässt. Oder auch die vielen Gerichte, in denen die zukünftige Braut ihr Können beweisen muss.
Und ja, gekocht habe ich natürlich auch. Ich habe mich einfach etwas mehr an die vegetarischen Gerichte gehalten. Das meiste hat mir sehr gut geschmeckt, fast alles ist gelungen. Der Knaller war das Borlotti-Bohnen-Pilaki. Ich hoffe, das gelingt mir noch einmal so gut. Es hat das Zeug zum Evergreen. Neu war mir die Zubereitungsart der Suppen, das kannte ich so nicht. Zum Beispiel bei der „Suppe der Braut Ezo“ (Ezo Gelin Corbasi) werden die Linsen zunächst nur in Wasser mit etwas Salz und Pfeffer gegart. Parallel dazu wird eine Art Würzsauce zubereitet, die kurz vor Ende der Kochzeit zu den Linsen gegeben wird und dann die Suppe erst aromatisiert.
Musa Dağdeviren hat mit seiner Anthologie ein besonderes Buch vorgelegt. Mehr Enzyklopädie als klassisches Kochbuch spielt es in einer ganz eigenen Kategorie. Es informiert, ist dabei aber nie langatmig, sondern vielmehr ein echter Fundus für interessierte Köche. Und hat damit einen Wert, der kulinarische Moden überdauert. Der Kochbuchautor kreiert hier nichts Eigenes, sondern schlüpft in die Rolle des Bewahrers.
Veröffentlicht im April 2020