Drei Sterne: Hat Stärken, aber überzeugt nicht ganz.
Die Tea Time steht für eine britische Tradition, die bis heute lebendig ist. Im Alltag bedeutet sie, sich Zeit für eine Tasse Tee am Nachmittag zu nehmen. Kulinarisch vielfältig wird die Institution spätestens beim Afternoon Tea, der klassisch mit Étagère, Gurkensandwich und Scones zelebriert wird – und zwar nicht nur in England, sondern weltweit – auch in einem Luxushotel an der Hamburger Alster.
Dort verantwortet der Chef-Pâtissier Marco D’Andrea den Afternoon Tea. Daraus ist sein Kochbuch Modern Tea Time entstanden. „Modern“ deshalb, weil D’Andrea das Thema kreativ und frei von Regeln interpretiert. Er schätze am „schnicken Sit-in“ der Oberschicht des 19. Jahrhunderts nicht das Zugeknöpfte, sondern das Aufeinandertreffen von Genuss und geselligen Momenten, bei dem es bunt und lustig zugehe, Teller und Schalen hin und her gereicht werden würden, schreibt er in seinem persönlichen Vorwort.

Dabei muss ich vorweg bekennen, dass ich Kaffeetrinker bin. Angesichts der optisch extravaganten Leckereien, die mich auf D’Andreas Buchseiten aber erwarten, möchte ich sofort trotzdem sein Stammgast werden, wenn nicht Geografie und Budget eindeutig dazwischen stünden. Aber die Rezeptsammlung ist ja dazu da, nicht nur das Werk und Können von Pâtissier Marco D’Andrea in die Welt zu tragen, sondern seine Leser:innen zu ermächtigen, die Köstlichkeiten selber zu machen. Die spannende Frage ist daher, ob sich diese Extravaganz, Perfektion und Pracht auch in meiner irdischen Küche verwirklichen lässt.
„Süßkram kann jeder“
D’Andrea würde diese Frage sicher mit Ja beantworten, schließlich behauptet er allen Ernstes: „Süßkram kann jeder“. Nun ja. Dem kann ich in der Sache zwar zustimmen, aber nicht nur die Patisserie ist ein sorgfältiges Handwerk, sondern auch das Rezepteschreiben.
Zunächst fängt alles ganz klassisch und harmlos an: Scones und Clotted cream. Dann dazu passend Konfitüren und Curds. Auch unspektakulär, aber hoppla, was soll das? Gelierzucker und dann 20 Minuten kochen? Da hätte ich gerne nachgefragt, weshalb der Meister hier gegen die Regeln verstößt, die besagen, dass Gelierzucker nicht länger als vier Minuten kochen soll. Es wird nicht die einzige für mich unklare Stelle bleiben.

Beim futuristisch aussehenden „Cube“, einer Kombi aus Himbeergel, Walnusskeks und aufgeschlagener Roquefortcreme, irritiert mich einiges, vor allem aber das Walnusspüree. Ist das identisch mit den gemahlenen Walnüssen ein paar Zeilen drunter? Außerdem gibt es in meinem Vorratsschrank weder die gewünschte Agar-Agar-Maltodextrin-Mischung noch das weiße Kakaobutterspray. In anderen Rezepten begegnen mir dann noch Kirsch-Crisps, Trimoline, Isomalt, Kürbiskernpaste, Kokos-Schlagcreme. Da diese wundersamen Zutaten weder erklärt noch Alternativen angeboten werden, kann ich schon mal etliche Rezepte als für mich nicht realisierbar abhaken.
Die luftige Vanillecreme – ein Hit
Punkten können dann aber eher Rezepte, die einfacher gehalten sind, und zwar vor allem Geschmacklich. Etwa „Pain de Gênes“, eine feine Melange aus lieblichem Marzipanteig und herber Schokolade. Bloß wo ist das Salz geblieben, das im Abspann erwähnt wird?
Aber zum Glück habe ich auch ungetrübt positive Rezepterlebnisse: Der üppige „Gugelhupf Banane Schokolade Walnuss“ überzeugt mich mit seiner aromatischen Saftigkeit. Die fruchtigen Tartelettes begeistern wegen der besonderen Vanillecreme auf Basis von Sahne und weißer Schokolade. Sie verlangt zwar eine lange Ruhezeit, aber das Ergebnis ist wegen der Luftigkeit ein Hit.
Marco D’Andrea:
„Ich mag das Wort „Süßkram“. Es klingt so locker und außerdem nach Kindheit. Süßkram kann eigentlich alles sein, also alles, was ich nicht anders definieren oder genauer zuordnen kann. … Ich liebe Süßkram und bin ganz fest der Meinung #süßkramkannjeder.“
Eben diese Vanillecreme kommt noch einmal zum Einsatz bei der Friesentorte, einem imposanten Gebilde. Da D’Andrea all jenen Absolution erteilt, die den Blätterteig schnöde käuflich erwerben, statt ihn in geduldiger Handarbeit selbst zu bereiten, habe ich nicht lange gezögert, denn eigentlich ist die Herstellung kein Hexenwerk. Noch einfacher wird es, wenn man wie ich stets selbst gemachte Zwetschgenmarmelade vorrätig hat. Die Angaben in dem Rezept machen die Zubereitung aber nicht einfach, sie sind eher vage gehalten.
Die pikante Seite der Tea Time
Das Kapitel mit den herzhaften Snacks präsentiert etliche Varianten von Sandwiches, allesamt verheißungsvoll. Highlights sind für mich die Chicorée-Kreation mit Orangen-Vinaigrette, gerösteten Walnüssen, Parmesan und Roggenbrot-Croûtons sowie die Forelle mit einer göttlichen Nussbutter-Vinaigrette, die bei mir sicherlich noch häufiger und in Kombination mit anderen Fischfilets oder auch vegetarisch zum Einsatz kommen wird. Bei beiden Gerichte habe ich die Rezepte aber angepasst (siehe unten).
Das Thema Modern Tea Time interpretiert der in Hamburg wirkende Patissiers Marco D’Andrea frei von der englischen Tradition, vielmehr kreativ, persönlich und anspruchsvoll. Mit einigen Rezepten habe ich gehadert aus Gründen des Aufwands oder handwerklicher Leerstellen. Trotzdem habe ich für mich einiges entdeckt. In der Gesamtschau hätte dem Kochbuch aus meiner Sicht eindeutig mehr „Ziehzeit“ gut getan.
Veröffentlicht im Januar 2023