Vier Sterne: Ein Kochbuch, das zufrieden macht.
Grenzenloses Gemüse – wenn das nicht den Zeitgeist trifft, was dann? Noch schöner, wenn sich ein Zwei-Sterne-Koch und El-Bulli-Zögling der grünen Küche kreativ verschreibt, um die Welt zu retten. Wie das José Andrés mit seinem Buch samt 100 Rezepten gelingt …
Er widmet Anthony Bourdain dieses Buch. Und als dessen Best Buddy fiel mir José Andrés (Foto unten) tatsächlich zum ersten Mal auf. Ein großer, behaarter, bulliger Typ, der immer einen Löffel oder ein Glas Wein in der Hand hält. Definitiv mehr Steak als Spitzkohl. Spanier. Sternekoch. Immer on fire! Dem geht’s jetzt um Gemüse? Aber ja! In der Einleitung seines neuen Buches stellt er zwar fest: Er sei kein Vegetarier – „auch nicht ansatzweise“. Aber ihm sind Essen und Nahrung ein wichtiges Anliegen. Das beweisen eine Handvoll Kochbücher und seine Restaurantflotte, die zum Buch-Erscheinungsdatum aus 34 Läden besteht.
Darüber hinaus engagiert sich der gebürtige Spanier in seiner Wahlheimat USA für Immigrant*innen (er war schließlich selbst einer), ist Gründer der NGO „World Central Kitchen“, die sich um die Versorgung von Menschen in Katastrophengebieten kümmert, unterrichtete in Harvard die Wissenschaft der Avantgarde-Küche und zählte laut „Time Magazine“ bereits zweimal zu „The 100 Most Influential People“. Außerdem hat er Frau und drei Kinder. Womit wir wieder beim Grünzeug wären.
Andrés beliebtestes Rezept
Denn „was ich am meisten an meinem Heimatland vermisse, sind die Gemüsegerichte“. Der Gazpacho (ja, er sagt der; die geht laut Duden aber auch) seiner Frau sei das beliebteste Rezept, das er jemals veröffentlicht habe und nach dem ihn die Leute auf der Straße fragen. Alle dürfen beruhigt sein: Auch in diesem Buch findet es sich wieder – sogar mit einigen Variationsmöglichkeiten wie etwa Avocado, Kirschen oder Roter Bete.
„Gemüse ohne Grenzen“ teilt sich im Rezeptteil in die Kapitel „Frühling“, „Sommer“, „Herbst“, „Winter“, „Beilagen, Saucen, Dips und Dressings“. Die werden immer wieder von längeren Reportagen unterbrochen, in denen sein Co-Autor Matt Goulding von Reisen, Andrés Vision und Kämpfer*innen für gute Lebensmittel berichtet. Außerdem erklärt José auf einigen Seiten „Woran ich glaube“, „Meine Art zu kochen“ und was für ihn in jeden Vorratsschrank gehört und „Zurück zu den Wurzeln“ bedeutet.
Denn Obst und Gemüse sind für ihn so „sexy, wie es ein Hähnchenbrustfilet niemals sein kann“. Mann müsse nur den Blickwinkel und die Möglichkeiten auf 360° erweitern. Und in dem Punkt gibt der Spanier mit seinem Buch wirklich Vollgas.
Gazpacho und Sangria
Natürlich dreht sich viel um Spanien. Die Gazpacho hatte ich bereits erwähnt. Weiter geht es mit kastilischer Knoblauchsuppe und der perfekten Sangria. Bei der sich José bis heute fragt, warum es sie auf der Welt so oft so schlecht gibt. Schließlich sei der Mix aus vollreifen Früchten, die man mit Rotwein oder Sekt aufgießt, kein Hexenwerk. Und liest man bei seinen Kombinationen quer – etwa Melone, Minze, Orangenzesten, Sekt und Gin –, möchte man sofort wieder den Sommer vorm Balkon zurück.
Aber auch sonst lässt er wenig auf der kulinarischen Gemüseweltkarte aus. Mexiko steuert „Avocado mit allem Möglichem“ alias den Guacamole-Salat bei. Tex-Mex-Küche schafft es mit der dekadenten Austin Grill-Maissuppe ins Buch, die mit ihrer Ladung Milch und Käse „so dekadent (ist), dass sie sich fast schon wie ein Dip essen lässt“. Der Libanon grüßt mit Fattoush. Und Indien ist mit einem Karotten-Curry vertreten – Andrés Ode an „einige großartige indische Köche“, die ihm Garam Masala, Kardamom und Sternanis näherbrachten.
Feine Fusionsküche findet sich bei ihm in den fancy Kürbisblüten-Cheeseadillas wieder, und unbedingt probieren musste ich natürlich den weißen Spargel mit Manchego-Rahm. Für dieses Gericht greift der Sternekoch doch tatsächlich zu Spargel im Glas. Nach 38 Jahren definitiv (m)eine Einkaufspremiere im Supermarkt. Aber längst nicht alles ist so einfach und wortwörtlich aus der Konserve.
Vor allem für Fortgeschrittene scheint mir die Getränkekategorie. Bestes Beispiel: der Green Lantern. Zu Shochu und Reismilch gesellen sich selbst gemachter Spargelsaft und Honigmelonensirup. Würde ich in jeder Bar sofort probieren. Für Zuhause war weder Zeit noch Saison. Auch total spannend, aber wegen frisch entsorgtem Waffeleisen ebenfalls raus: seine Spaghettikürbis-Waffeln mit Blätterteig.
Die weltbeste Tortilla
Andrés will die Grenzen der Pflanzenwelt austesten und tut das tatsächlich auf 320 Seiten immer wieder. Mein absolutes Highlight in diesem Buch: seine Terra-Chip-Tortilla. Er philosophiert über halbstündig geschmorte Zwiebeln, die je nach Glaubensfrage gar nicht hinein gehören (ich habe sie weggelassen), und erklärt, dass man die Kartoffeln ja eigentlich sehr langsam garen müsste, bevor man sie mit den Eiern vermengt. Um dann seinen Rezeptehack zu verraten, den er Kochgott Ferran Adrià abgeschaut hat, der ihn übrigens nach drei Jahren im „El Bulli“ feuerte. Nimm Chips statt Kartoffeln! Eine Tüte Gemüse- bzw. Kartoffelchips in sieben verquirlte Eier geben, ziehen lassen, braten. Das lass ich jetzt mal so stehen … (mehr dazu unten).
José Andrés:
„Olivenöl ist die Urform gepressten Safts. Algen sind der Salat des Meeres. Wenn ich über Pflanzen spreche, dann kommt alles auf den Tisch.“
Das Buch versammelt vegetarische Klassiker genauso wie innovative Gerichte. Mal schnell gemacht, mal sehr aufwendig. Im Ergebnis immer ziemlich überzeugend. Und einen großen Extra-Pluspunkt bekommt „Gemüse ohne Grenzen“ außerdem: Es lässt die Belehr-Verbotskeule in der Küchenschublade. Denn es geht darin gar nicht darum, keine Tiere zu essen (wobei weniger natürlich besser wäre), sondern darum, mehr Gemüse zu essen, „so vielseitig und lecker wie irgend möglich“. Das gelingt (mit) diesem Buch definitiv.
Veröffentlicht im April 2021