Vier Sterne: Ein Kochbuch, das zufrieden macht.
Insbesondere von Frauen wird das Wort „Fett“ heute mit der gleichen pikierten Miene ausgesprochen, wie das Wort „Pornographie“ in den 50er-Jahren. Dementsprechend entgleisten die Gesichtszüge meiner Frau beim Anblick des Rezensionsexemplars auf dem Küchentisch derart, als hätte man Doris Day ein unmoralisches Angebot unterbreitet. Eingedenk der jüdischen Weisheit „Familie ist gut, aber böse musst Du mit ihr sein“ lag mir „Wenn Du mich wirklich liebst, willst Du es auch probieren, Schatz“, auf der Zunge, aber man darf den Bogen nicht immer überspannen.
Wer einen wahren Falstaff oder Gargantua als Autor erwartet, erlebt die erste Überraschung, denn die Autorin sieht auf ihrem Foto (unten) eher wie eine zierliche und disziplinierte Klavierlehrerin aus. Jennifer McLagan ist eine australische Köchin mit schottischen Wurzeln, die in Michelin-besternten Restaurants sowie Botschaften in Melbourne, Paris und London arbeitete und mittlerweile in Toronto lebt, kocht und schreibt.
Humorvoll und anekdotenreich
Wie um dem skeptischen Leser die Angst vor schuldbeladenen hemmungslosen Exzessen zu nehmen, präsentiert sich das Buch wie ein gymnasiales Physiklehrbuch. Das Layout ist klassisch mit geringen Farbkontrasten und wenig Fotos, so dass Hauptspeisen und Süßspeisen nicht auf dem ersten Blick zu unterscheiden sind und die wenigen Bilder keinen spontanen Speichelfluss auslösen. Aber hier geht es ja um mehr als bloß Rezepte.
Schon zu Beginn der Lektüre wird man von den Gedanken der Autorin angezogen wie Sindbad vom Magnetberg. Ihre Könnerschaft in der Darstellung von Esskultur bis Küchenpraxis zeigt sich in tiefer Fachkenntnis, unerschrockener Abweichung von zeitgenössischen Mehrheitsmeinungen und ist dabei nicht trocken oder technisch, sondern in so humorvoller, anekdotenreicher und flüssiger Sprache verfasst, dass die Optik des Buches an Bedeutung verliert.
Ein geistiger Feldzug gegen Vorurteile
Die englische Ausgabe von „Fett“ erschien im Jahr 2008 unter dem Titel „Fat: An Appreciation of a Misunderstood Ingredient, with Recipes“ (unten ein Blick in die englische Originalausgabe) , gewann gleich zwei James-Beard-Awards und war Finalist des IACP-Awards. Preise also, welche als die Oscars und Golden Globes der kulinarischen Welt gelten. Schon 2005 erschien ihr erstes Buch „Bones: Recipes, History, and Lore“, das ebenfalls einen Beard-Award erhielt. 2011 folgten die ebenfalls ausgezeichneten Werke „Odd Bits: How to Cook the Rest of the Animal“ und 2014 „Bitter: A Taste of the World’s Most Dangerous Flavor, with Recipes“. Hier führt jemand einen Feldzug gegen die Vorurteile und Verflachung unserer Esskultur und die Kritiken und Preise, die dabei errungen wurden, sind keine Glückssiege, sondern die verdienten Lorbeeren eines unkonventionellen und strategisch denkenden Kopfes, der außerhalb der sicheren Fahrwasser des Medien-Mainstream navigiert.
Nach einer kurzen persönlichen Einleitung über den gelassenen und genussfreudigen Gebrauch von Fett in den 60er Jahren wird geschildert, wie es dazu kam, dass uns in den Fleisch-Verkaufstheken magere, farblose und entbeinte Klumpen in Vakuumverpackungen präsentiert werden, die weder optisch an die Tiere erinnern sollen, die sie einmal waren, noch herzhaft schmecken.
1977 bestätigte der US-Kongress den seinerzeitigen Stand der wissenschaftlichen Irrtümer, dass der Verzehr tierischer Fette gesundheitsschädlich sei. Jahrtausende menschliche Erfahrung, die traditionelle Rezepte, Volksfeste, Sagen und Sprichwörter prägten, wurden dabei von der Politik geflissentlich ignoriert. Der geneigte Leser zieht beim Lesen unwillkürlich Parallelen zu aktuellen Erziehungsversuchen der Parteien und Massenmedien der deutschen Erregungsgesellschaft.
„Fettloses Essen ist geschmacklos, freudlos – und ungesund.“
Anschließend zertrümmert Jennifer McLagan auf der Basis des heutigen Wissens genüsslich das überholte Glaubenssystem, indem komprimiert aber systematisch medizinische Fakten und Küchenphysik erklärt werden. Der Verzicht auf Fett führt zum Mehrverzehr von Kohlehydraten und mehr Zwischenmahlzeiten, was nach neuesten Erkenntnissen noch ungesünder ist. Kein Wunder also, das Übergewicht eine Volkskrankheit wurde, die fettarme Essenszubereitung Speisen qualitativ verschlechtert und das Essen glückspendender Aromen beraubt. „Fettloses Essen ist geschmacklos, freudlos – und ungesund.“
Der Hauptteil des Buches gliedert sich in die Kapitel „Butter“, „Schweinefett“, „Geflügelfett“ und „Rinder- und Lammfett“, wobei in einer Einleitung das jeweilige Fett aus verschiedenen Perspektiven – Herstellung, Eigenheiten, Küchengeschichte, Verarbeitung – erklärt wird. Darauf folgen viele verlockende und überraschende Rezepte, die bedauerlicherweise spärlich und nicht besonders reizvoll illustriert sind. Etwas problematisch erwies sich für mich die aufsatzähnliche Form der Rezeptbeschreibung, da sie dazu führte, dass ich kompliziertere Gerichte beim Zubereiten immer wieder von vorne lesen musste.
Absolut faszinierend jedoch sind vor allem die locker eingestreuten Informationen, internationalen Sprichwörter und Geschichten zum Thema Fett. So erfährt man, dass seit mindestens 2.000 Jahren bis in die frühe Neuzeit Iren und Schotten Butter und Schafstalg in ihren Mooren lagerten. Oder warum seit Urzeiten Fette für die Herstellung von Kosmetik und Medizin wertgeschätzt wurden. Oder dass in Bazas, einer Stadt südlich von Bordeaux, jedes Jahr das mittelalterliche Fest der fetten Rinder gefeiert wird. Nicht erst seit biblischen Zeiten war Fett ein Synonym für Glück, Genuss und Wohlstand.
Jennifer McLagan hat mit ihrer Ode an das Fett ein kulinarisches Werk von hoher Qualität geschaffen. Die volle Punktzahl erreicht es für mich nur nicht, da mir die gestalterische Aufbereitung von Texten und Bildern nicht schmeckte und mir bei den zubereiteten Speisen doch die letzte überraschende Raffinesse fehlte, welche ein Kochbuch in den Fünf-Sterne-Olymp erhebt. Unzweifelhaft stellt das Buch jedoch eine Bereicherung für jede Bibliothek dar, weil es auf eine mutige und originelle Art dem Leser neue Zusammenhänge erschließt und dabei gut unterhält wie informiert. Fett – klug und bewusst verwendet – steht nach der Lektüre wieder für Genuss, Gesundheit und ein gutes Leben.
Veröffentlicht im Dezember 2015