Fünf Sterne: Valentinas Liebling – zum Schwärmen gut.
Manchmal wüsste ich gern, wie das früher war. Als noch jedem klar war, dass man sich das Gemüseschälen schenken kann, dass Kohlstrunk durchaus vorzüglich schmeckt und dass Radieschen-, Kohlrabi- und Sellerieblätter viel zu schade sind für den Kompost. Das alles weiß bloß kaum noch jemand in einer Welt, in der mitunter sogar Bananen und gekochte Eier gepellt und frischhaltefolienverpackt im Supermarkt liegen. Esther Kern, Sylvan Müller und Pascal Haag setzen mit ihrem Schwergewicht „Leaf To Root“ zur Konterrevolution an.
Die Journalistin, der Koch und der Fotograf (unten links ein Foto des Teams), so will es die Legende im Vorwort, führte eine Aktion des Schweizer Portals Waskochen.ch zusammen: 2014 fragte man bei Amateur- und Profiköchen an, was ihnen denn zu all jenen Gemüseteilen einfiele, die normalerweise unbesehen im Müll landen („second cuts“). „Leaf To Root“ nannte Waskochen-Chefredakteurin Kern das Ganze analog zu Fergus Hendersons Nose-to-tail-Bewegung – und traf damit ins Schwarze.
Auf dem Weg gen Durchschnittsküche
Dieses halbvergessene Wissen um die Qualitäten von Karottengrün, Kartoffelschalen oder Kohlrabistängel hat nämlich einen entscheidenden Vorteil: Jetzt, anno 2017, kann man es mit Pauken und Hashtagwolken wiederentdecken. Bisher tun das vor allem Enthusiasten wie die Crew des Nürnberger Restaurants Essigbrätlein, derzeit vielleicht DIE Adresse für Gemüseküche in Deutschland, oder ganz besonders hippe Hipster. Wenn aber der Trend jenen Weg nimmt, den er am liebsten geht, und am Ende doch neben Thermomix und Tupperdose in der deutschen Durchschnittsküche ankommt, wäre wahnsinnig viel gewonnen.
Die vielbeklagte Lebensmittelverschwendung von rund 80 Kilogramm pro Kopf und Jahr könnte gesenkt werden, weil die Vermutung nahe liegt, dass der bewusstere Umgang mit Obst und Gemüse auch zu einem bewussteren Umgang mit anderen Lebensmitteln führt (Parmesanrinde! Ausgelöste Knochen! Steinhartes Brot!) – und das ist nur ein Aspekt von vielen.
Die zugehörige Bibel gibt es seit vergangenem Herbst: „Leaf To Root“ des Trios Kern, Müller, Haag ist ein 320 Seiten langes, anderthalb Kilo schweres Manifest. Die Waskochen-Aktion war nämlich nur das Initial, um immer noch weiter und weiter zu recherchieren.
In Bibliotheken, auf dem Wochenmarkt, im Kleingartenverein, am anderen Ende der Welt. Was das Trio dabei zutage gefördert hat ist ziemlich unglaublich: Den auch Huitlacoche genannten, von europäischen Bauern gefürchteten Maisbrandpilz kann man nicht nur essen, er gilt z. B. in Mexiko als echte Delikatesse. Ähnliches gilt für (Bio-)Bananenschale, Dahlienknollen, Rapsschoten oder die Triebe von Kürbis und Erbsen.
Kann man das essen?
Klingt speziell? Wenn man sich durch die Hintergrundberichterstattung in Form von Interviews, Essays, Reportagen gelesen hat, findet man das gar nicht mehr, sondern will vor allem eins: probieren! Möglichkeit dazu gibt es genug: 70 Rezepte sind auf sechs Großkapitel (Blatt & Kraut, Stiel & Rippe, Haut & Haar…) verteilt – und jede „Kann-man-das-essen?“-Frage, die dann immer noch nicht offen sein sollte, beantwortet das so geniale wie umfangreiche Glossar am Ende, inklusive Literatur- und Linkliste zur eigenen Anschlussrecherche. WOW!
Theorie und Praxis
Überwältigt von so viel Theorie war es in meiner Küche mit der Praxis ein bisschen weiter her (Merke: „Leaf To Root“ niemals zwischen stressige Projektphasen quetschen – das geht nach hinten los!), schließlich habe ich weder einen eigenen Garten, der mich mit Chicoréewurzeln oder Maishaar konfroniert, noch ist der regionale Gemüsetisch im Winter besonders üppig gedeckt.
Für den sanften Einstieg mussten also die Karottenschalenpakoras zu Linsen-Dal herhalten: sehr anfängertauglich, geschmacklich allerdings leider nur durchschnittlich. Die echten Wow-Momente gab es erst nach ein bisschen mehr Experimentierfreude: Gurkencurry inklusive Schale? Fein! Radieschenblatt-Salat mit karamellisierten Kürbiskernen? Oh ja, bitte! Und den Vogel abgeschossen hat der geschmorte Rotkohlstrunk auf Orangenpolenta: richtig, richtig gut!
Reste, die neue Hauptzutat
Das war der Moment, in dem ich mich ein bisschen fühlte wie der große Hans Gerlach, der sich, nachdem er für die Süddeutsche Zeitung Kartoffelschalen in den Ofen geschoben hatte, fragte, was er jetzt mit den ganzen Kartoffeln anfangen solle, die übrig sind. Reste, die neue Hauptzutat!
Oder anders: „Leaf To Root“ läuft vor allem da zu Höchstform auf, wo es zu kreativem Umgang mit (vermeintlichen) Überbleibseln inspiriert. Die Kohlrabistängel-Teigtaschen waren z. B. die perfekte Ergänzung zum Kohlrabi-Gratin am Vortag, der spontane Rest Rotkohlstrunk ebenfalls Anlass, sich einfach mal am Rezept entlangzuhangeln.
Wow. Wow, wow, wow! Wer Lust hat auf kulinarische Horizonterweiterung (Bananenschalenpancakes, Bärlauchknospenkapern, Blumenkohlstrunkpanacotta!), einen kleinen Garten besitzt oder gute Connections zum örtlichen Gemüsehandel, der MUSS sich „Leaf to root“ ins Regal stellen! Ein intensiveres, besser recherchiertes, wertigeres und geschmackvolleres Kompendium zur vollständigen Verwertung wird man sonst nicht finden.
Veröffentlicht im Juli 2017