Italien: Von der Sonne und den Göttern geküsstes Land zwischen den Meeren! Das Talent der Italiener für Schönheit und Genuss welches sich von der musikalischen Sprache bis hin zu eleganter Mode, Design und Architektur artikuliert. Dazu eine der unzweifelhaft besten Küchen dieses Planeten.
Wer ein Herz hat, muss es Italien schenken. Selbst uns rationalen Ordnungsgermanen wird spätestens seit Goethes berühmter Italienreise ganz warm ums Herz, wenn wir an dieses Sehnsuchtsland denken. Alles was uns zu Hause in den Wahnsinn treiben würde, wie Ineffizienz, Kriminalität, Damenbärte und Unordnung, verzaubert uns, sobald wir uns in Italien befinden. Ähnlich adeln wir nur bei besonders charismatischen und schönen Menschen jeden Fehler als originell und liebenswert.
So ging es auch Elena Kostioukovitch. 1958 in Kiew als Enkelin des Schriftstellers und Malers Leonid Volynski geboren, fand sie schon früh Zugang und Anerkennung in den literarischen und künstlerischen Kreisen ihrer Heimat. Mitte der 1980er Jahre betrat sie in Triest zum ersten Mal italienischen Boden. Beglückt über die nicht selbstverständliche Möglichkeit, aus dem grauen Sowjetsozialismus in das farbenprächtige Italien reisen zu dürfen, bestand ihr erster sinnlicher Eindruck aus den verführerischen Essensdüften am Bahnhof. Italien, das war für sie Liebe auf den ersten Blick und Geruch. Alles war schöner als in der kalten Heimat. Ineffizienz, Unordnung und Damenbärte kannte sie von zu Hause. Mittlerweile lehrt sie als Professorin an mehreren italienischen und japanischen Universitäten und lebt seit über 20 Jahren in Mailand, wo sie eine Literaturagentur leitet und unter anderem die Werke Umberto Ecos übersetzt.
Als aufmerksamer Fremder (links ein Foto der Autorin) fiel ihr bald auf, dass in Italien mehr als in anderen Ländern über das Essen gesprochen wird. Diskussionen über die richtige Zubereitung einer Speise oder die Aromen eines Weines werden genauso ernst genommen wie Debatten über Politik, Sport und Kunst. Dabei spielen in der italienischen Kultur und kollektiven Phantasien, von den Redensarten des Volkes (venire come il cacio sui maccheroni, „wie der Käse auf den Makkaroni kommen“ für „wie gerufen kommen“) bis zu den Metaphern der Elite, Verweise auf das Essen eine verbindende Rolle. Bestimmte Speisen werden den Rechten oder Linken zugeordnet (so ist die Zichorie ein Symbol des Klassenkampfes) und je nach Standpunkt, gefeiert oder geschmäht. Verglichen mit den bei uns zumeist humorlos und verbittert ausgetragenen Konflikten erinnert die sprichwörtliche Dauerkrise der italienischen Demokratie an die lustvollen Kabbeleien von Don Camillo und Peppone, dem reaktionären katholischen Priester und dem kommunistischen Bürgermeister, die in ihrer Hassliebe nicht voneinander lassen können und sich mit Tafelfreuden nach ihren Kämpfen trösten.
Seebarsch im verrückten Wasser
Während es vor allem in nördlicheren und protestantisch geprägten Nationen unter Intellektuellen eher verpönt ist, sich von den kulinarischen Sinnesfreuden beim Debattieren über ernste Themen ablenken zu lassen, geht in Italien das eine in das andere nahtlos über.
Vielleicht ist ein Grund dafür die musikalische Sprache. „Spigola all’acqua pazza” und „Pasta alla putanesco” sind verlockende Wortmusik. Hingegen auf Deutsch übersetzt wären “Seebarsch im verrückten Wasser” und „Nudeln nach Hurenart“ Ladenhüter.
Ähnlich wie Deutschland und ganz anders als beispielsweise Frankreich oder Großbritannien, wurde die italienische Nation erst in jüngerer Vergangenheit aus verschiedenen Fürstentümern geformt, deren Dialekte sich noch immer sehr unterscheiden. So vermutet die Autorin, dass das unentwegte Lamento über Rezepte und Essen, neben der katholischen Genusskultur, auch Identität stiftenden Verweisen der Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder Gegend dient.
Elena Kostioukovitchs Ausführungen machen die ungemeine Heterogenität des Landes deutlich. Ebenso wie Deutschland hat Italien das Glück, dass ihm der Zentralismus erspart blieb. So konnte sich das Land dezentral entwickeln. Ein Grund für die Buntheit des Landes ist auch, dass die Vorfahren der heutigen Italiener eine Mischung verschiedener Ethnien sind. Vor den Römern lebten Kelten und Etrusker im Norden, nach den Römern siedelten sich germanische Stämme wie die Langobarden an. Der Süden hingegen wurde vor den Römern von den Griechen geprägt und nach den Römern von den Arabern. Die Fremdherrschaft von Franzosen und Österreichern im Norden und von Normannen und Spaniern im Süden hinterließ ebenfalls gastronomische Fußabdrücke.
Von Venetien bis Sizilien
Elena Kostioukovitchs Werk erschien erstmals 2006, wurde seitdem in zehn Ländern verlegt und mit dem renommierten italienischen Literaturpreis Premio Bancarella della Cucina ausgezeichnet. Inhaltlich aktualisiert, erschien es 2015 endlich auch auf Deutsch. Es ist kein Kochbuch, sondern ein gastronomischer Reiseführer durch die 20 Regionen Italiens und deren Geschichte. Sofern Rezepte wie das lombardische Risotto beschrieben werden, dann in ihrem historischen Kontext samt der sich um die Speise rankenden Legenden.
Der Verlag setzte bei diesem Buch völlig auf den Text der Autorin. So kommt schon das reduzierte Titelbild mit wenig Farbe aus, aber vor allem verblüfft das Buch durch sein geringes Gewicht, was keinen guten Eindruck hinterlässt. Es ist ungefähr ein Drittel leichter als Titel vergleichbaren Formats, weil niedrigpreisiges und leichtes Papier verwendet wurde. Das macht sich auch dadurch bemerkbar, dass die an sich guten Fotos nur schwarz-weiß und grobkörnig sind.
Die kulinarische Dekodierung der Regionen beginnt im Norden mit Friaul-Julisch Venetien und endet mit Sizilien und Sardinien. Nach einleitenden Beschreibungen von Geographie und Geschichte wird das Land mit seiner Wirtschaft, lebenden Traditionen, Volksfesten, sowie vor allem den typischen Produkten und Gerichten erklärt. Anekdoten, Zitate, Romanauszüge und Hintergründiges lockern die gelungenen Texte auf, so dass keine Langeweile entsteht und der Leser bald bestimmte Essen mit Geschichten und Bildern verknüpft.
Auf dem Sofa und in der Ferne
Die Kapitel die den Regionen gewidmet sind, wechseln ab mit Kapiteln zu Volksfesten, Olivenöl, Juden, Eros oder Totalitarismus und deren Verbindung oder Bedeutung für die italienische Esskultur. Auf den letzten Seiten findet sich ein kleines Lexikon oder vielmehr Wörterbuch zu den Zubereitungsarten und Nudelsaucen. Die dreiundzwanzigseitige Bibliographie und das vierzigseitige Register halten jeden Vergleich mit einem meiner Geschichtsbücher stand. Kein Wunder, werden dort neben italienischen Denkern und Schriftstellern, wie Dante Aligheri, Andrea Camilleri oder Italo Calviino auch internationale Wissenschaftler und Autoren wie Jared Diamond, Heinrich Heine, Homer oder Charles Dickens aufgeführt.
Dies ist keine Rezeptsammlung, sondern eine unterhaltsame und kluge Führung durch Italiens Felder, Speisekammern, Küchen, Esszimmer und Geschichten. Während man sich abwechselnd die Lippen leckt, den Kopf schüttelt oder über historische Lebensbilder staunt, versteht man Land und Leute immer besser. Es ist nicht nur den Italienreisenden zu empfehlen, die sich mit ihrem Reiseziel genussvoll beschäftigen möchten, sondern auch ein Nachschlagewerk für all diejenigen, die am liebsten Raum und Zeit am eigenen Herd oder auf dem Sofa durchqueren. Aufgrund des für Reisende unhandlichen Formates und des preiswerten Papiers würde ich es als E-Book erwerben. Ein absolut empfehlenswertes Buch für kulturinteressierte Genießer.
Veröffentlicht im Februar 2016