Fünf Sterne: Valentinas Liebling – zum Schwärmen gut.
Uns allen hat man frühzeitig beigebracht, den Strunk aus dem Chicorée keilförmig auszuschneiden. Denn wer will schon bitteres Gemüse essen? Vielleicht machen Sie das in Zukunft nicht mehr, falls Bettina Matthaei Sie zum Genuss von Bitterem verführen kann, und ich darf Ihnen versprechen, das lohnt sich!
Das Wort „bitter“ ist überwiegend negativ besetzt, was wohl damit zu tun hat, dass gefährlichen Giften früher eine Bitterkeit nachgesagt wurde. Und weil Kinder nichts Bitteres mögen, hat die Lebensmittelindustrie vielen Gemüsen die Bitterstoffe entzogen und bemüht sich nach wie vor, uns zu Zuckerenthusiasten zu erziehen. Lediglich die Getränkeindustrie hat den Reiz von bitteren alkoholischen Getränken längst entdeckt und genutzt, und deren Beliebtheit hat in den letzten Jahren stark zugenommen.
Der bekannte Gewürzspezialist Thomas A. Vilgis weist in seinem Vorwort darauf hin, dass wir Menschen die Geschmacksrichtung „bitter“ zuletzt erlernen müssen, weil die vier anderen uns von Anfang an mit Babynahrung und Kinderkost automatisch nahegebracht werden. Mit der fünften Dimension eröffnet sich ein neuer Geschmackskosmos, der Vertrautes neu akzentuieren und ganz neue Genüsse möglich machen kann. Klingt das nicht vielversprechend? Ich war jedenfalls sofort Feuer und Flamme, vor allem als ich die Rezepte in Bettina Matthaeis Kochbuch Bitter und deren Zutaten sah, die gar nicht exotisch sind und alltagstauglich erscheinen. (links ein Foto der Autorin)
Die Reise in ein neues Geschmacksuniversum
Bettina Matthaei selbst hat diese „Reise“ ins Reich des Bitteren bereits vor längerer Zeit begonnen und stellt uns in ihrem Buch ihre Zwischenergebnisse vor, um uns auf ihrem Weg mitzunehmen. Ihr Buch ist nach einer Erläuterung von Basics eingeteilt in „Immerbitter“, „Winterbitter“, „Sommerbitter“ und „Flüssigbitter“, wobei die ersten drei Kapitel sich an der üblichen Speisenfolge von Vorspeise bis Dessert orientieren. Zahlreiche Gerichte sind großformatig bebildert.
In den Eingangskapiteln erläutert die Autorin alle Bitterstoffe und ihre eigenen Favoriten kurz, und diese sind in den Zutatenlisten der folgenden Rezepte fett gedruckt. Dadurch bekommt man vor dem Kochen eine ungefähre Idee von der Bitterkeit der Gerichte. In der Praxis stellte sich dann schnell heraus, dass der Grad des Bitteren hierdurch nur sehr bedingt einschätzbar ist. Gut fände ich gerade für Novizen eine erkennbare Skalierung vielleicht in „leicht“, „mittel“ und „stark“.
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Warum das hier besonders nützlich wäre? Weil davon auszugehen ist, dass jeder Genießer auf einem individuellen Niveau einsteigt. Nimmt man die Herausforderung der Autorin zur Teilnahme an einer Geschmacksreise an, und das kann ich wirklich empfehlen, ist der passende Startpunkt nicht unerheblich. Übrigens habe ich aus diesem Buch erst gelernt, dass Biere bereits eine feine Skalierung haben, nämlich das Kürzel IBU (International Bitternis Units). Häufig haben Biere aus Großbrauereien um die 30 IBU, Craft-Biere können bis 70 gehen. Wie gesagt, beim Geschmack „bitter“ sind die Getränkehersteller um Längen voraus!
Das macht sich auch die Autorin zunutze, die im letzten Teil des Buches Essenzen aus Gewürzen und Kräutern vorstellt, die sie durch das Einlegen in Wodka gewinnt und deren unterschiedlichen Grad an Bitterkeit sie beschreibt. Für so etwas bin ich anfällig und vor meinem inneren Auge sehe ich meine Küche schon zu einem Labor mit dunklen Fläschchen und Pipetten mutieren: Ysop und Walnussblätter sind bereits eingelegt. Dann warten noch weitere 27 Tinkturen. Auch fertig zu kaufende Flüssigkeiten werden in den Rezepten verwendet, z. B. Tinctura aurantii amari (Bitterorangenessenz, in der Apotheke erhältlich) oder Schnäpse wie Becherovka, denen ich bisher noch nicht begegnet war. Aber keine Angst: Man findet auch Rezepte ohne Tinkturen, denn Bitterstoffe sind quasi überall. Es kommt allerdings auf die Dosis an.
Das individuelle Geschmacksexperiment
Bettina Matthaeis Kochbuch lässt sich grundsätzlich auf zwei Arten nutzen: man kann sich von den vielen variantenreichen Rezepten inspirieren lassen und querbeet das eine oder andere ausprobieren, einschließlich der Biercocktails oder anderer Mixgetränke. Das bietet viele geschmackliche Reize und alleine dafür lohnt sich das Buch allemal. Der Nachteil: Es wird wahrscheinlich nur punktuell nachhallen. Vielleicht gönnt man sich als Alternative eine echte Geschmacksreise, die tatsächlich Elemente der Selbstfindung beinhaltet.
Ich selbst habe mit dem ersten Weg begonnen, um flugs im zweiten zu landen. Und dann wurde es erst richtig spannend. Der Startpunkt war nicht bewusst gewählt, sondern durch Zufälle geprägt. Wir haben die Rezepte für die einschlägigen Salate des Herbstes (Rucola, Radicchio, Endivie) gerne ausprobiert, weil sie gerade saisonal zu haben waren, ebenso Grapefruit und Walnüsse. War das nun besonders bitter? Das fanden wir nicht! Offensichtlich ist man im fortgeschrittenen Alter an ein gewisses Niveau von Bitterkeit gewöhnt und nimmt es kaum noch als solches wahr.
Dann haben wir einen Chicorée nach Anweisung eines Rezeptes mit Strunk gegessen und fanden ihn unangenehm. Wahrscheinlich mag man das Gewohnte sehr und möchte das nicht ändern. Oder es war für uns das falsche Niveau an Bitterkeit. Man kommt ständig ins Grübeln über die eigene Wahrnehmung und ihre Ursachen. Da erweist es sich als sinnvoll, dass alle Rezepte für 2 Personen ausgelegt sind, denn das befördert den intensiven Austausch über die Geschmackserlebnisse.
Nach diesen eher zufälligen Versuchen fingen wir nun an, bewusst Rezepte zu wählen, mit denen sich experimentieren ließ. Wir haben Sumach auf einem Brathuhn probiert, das unbekannte Becherovka in Frischkäse als Füllung von Birnen und Bitterorangen-Tinktur in einer Vinaigrette. Das war alles schon deutlich prononcierter und schmeckte interessant anders, mal gut, mal weniger, und es wurde klar, dass es ein längerer Prozess des Schmeckens und Nuancierens werden würde.
Eine Fernet-Branca-Kräuterbutter haben wir mit unterschiedlichen Mengen des Bitters zubereitet und stellten fest, wo für uns der Kipppunkt war. Es gibt eben schnell auch ein Zuviel, und das ist für jeden anders. Wir stellten die These auf: Der Weg zur Wahrnehmung und größeren Wertschätzung des Bitteren funktioniert wahrscheinlich eher über das Unbekannte, aber die Dosis ist alles.
Einen besonders anspruchsvollen Lernprozess werden hingegen die „feinen“ Bitterstoffe erfordern wie z. B. in Rosmarin, Thymian und Lorbeer, Safran, Oliven und Salzzitronen, deren Aromen durch ihre Vertrautheit bereits fest zugeordnet sind in der Mittelmeerküche. Sie aus ihrem normalen Umfeld herauszulösen und zu neuem Einsatz zu bringen, wird die feinen Bitterqualitäten wohl deutlicher machen. So weit sind wir noch nicht. Wir benötigen zunächst noch eine längere Geschmacksschulung über die gröberen Klötze.
Was mich auf meiner persönlichen Reise gleich wieder zu den angesprochenen Tinkturen bringt: Ich habe keine Ahnung, wie Walnussblätter-Essenz schmeckt. Diese eher unbekannten Aromen werden wohl unsere nächsten Stationen auf der Reise werden, und es soll sogar fertige Sellerie-, Gurken- und Pfirsich-Bitter geben? Wow, wie schmeckt das denn?!
Die etwas andere Rezension
Meine Aufgabe hier ist es, herauszufinden, was dieses Kochbuch taugt. Mein Text oben folgte zunächst der bewährten Routine des Beschreibens der Inhalte und der Rezepterprobung, um dann unvermittelt in einem wirklich intensiven persönlichen Lernprozess stecken zu bleiben. Das ist ein hervorragendes Zeichen. Wenn ein Buch so etwas schafft, nicht nur eigene Kochroutinen zu durchbrechen, sondern mich als Leserin und Köchin auch noch ins Grübeln zu bringen, was ich wie schmecke und warum, wenn es die Lust schürt, an Geschmacksnuancen zu tüfteln und dazu die Instrumente aufzeigt … kann man mehr erwarten?
Die angebotenen Rezepte sind für sich genommen alle interessant, breit gefächert und viele Gerichte wohlschmeckend. Aber vor allem weisen sie über sich hinaus. Ich habe hier schon viele gute Kochbücher besprochen, und nur die besonders guten haben das Potenzial, Veränderungen anzustoßen. Dieses Buch von Bettina Matthaei ist so eins!
Es bleibt zu hoffen, dass weitere Leser ohne explizite Anleitung der Autorin auf die Reiseroute zum Bitteren gelangen, denn die Anordnung der Rezepte nach gängigen Kochbuchprinzipien fördert das nicht. Das ist aber auch die einzige Einschränkung, die ich machen würde. Wir selbst werden noch zahlreiche Gerichte aus dem Buch kochen und freuen uns schon auf die Mixgetränke, wenn die Tinkturen fertig sind. Unsere eigene Reise hat gerade erst begonnen …
Veröffentlicht im Dezember 2020
Der Hädecke Verlag bietet kulinarisch 2 feine Bitterprodukte an.
Zum einen das Buch „BITTER“ plus Hopfenfreund zu 38,-€ als Geschenkidee. Unbedingt dazu die Geschichte des Schülers Paul, Begründer von „Die Ölfreunde“, im Internet nachlesen. In Südwest 3 kam zu Paul auch eine beeindruckende Doku. Eines seiner vielen Öle ist „Hopfenfreund“, ein Alltagsöl mit kräftiger Bitternote.
Das 2. Produkt ist der Wald-Apero „eWilpari“, ein Bitter, alkoholfrei und bio-zertifiziert – ebenfalls mit sehr interessanter Hintergrundsgeschichte. Initiator der eWilpa ( =essbare Wildpflanzenparks)-Stiftung ist der Autor, Dozent und Visionär Dr. Markus Strauß. Sicher kennen viele seine Bücher zu den Wildpflanzen. Der „eWilpari“ Wald-Apero schmeckt mir seeeehr gut – nicht nur um beim Verdauen üppiger Mahlzeiten zu helfen! Den „Hopfenfreund“ habe ich eben erst bestellt, kann also noch nichts dazu sagen
Danke Dir herzlichst für den Hinweis, Birgitta. Klingt großartig!