Ernährungsempfehlungen sind populär. Sie begleiten immer mehr Rezepte und Produkte. Kaum ein Kochbuch, in dem nicht ein Gesundheitsvorteil empfohlen wird. Belege für die Aussagen gibt es meist nicht.
Inzwischen mehren sich die Stimmen der Aufklärung. Dazu gehört auch Thomas A. Vilgis. In seiner Neuerscheinung „Einfach essen – Gegen den Ernährungswahn in unseren Köpfen“ geht er populären Behauptungen auf den Grund. Das ist aufschlussreich, denn Vilgis ist Professor für Theoretische Physik an der Universität Mainz. Er leitet am Max-Planck-Institut für Polymerforschung die Gruppe „Soft Matter Food Physics“, welche die physikalischen Aspekte des Essens unter Berücksichtigung von Zutaten und Zubereitung untersucht. Dabei zeichnet ihn seine Passion fürs Kochen und die Naturwissenschaften aus, was zu ungewöhnlichen Experimenten führt. Ein Interview über fluffige Membranen, schlechte Studien und wie unser Hautmikrobiom die Aromabildung unterstützen kann.
Katharina Höhnk: Thomas, auf Valentinas haben wir zahlreiche Kochbücher von Dir vorgestellt. Was war der Anlass, Dich mit dem Thema „Ernährungswahn“ auseinanderzusetzen?
Thomas A. Vilgis: Ich lese gerne Zeitung und entdecke darin oft Ernährungsempfehlungen. Die habe ich nie so richtig verstanden, dachte aber, das sei normal, ich bin ja schließlich kein Ernährungswissenschaftler, sondern Physiker. Aber das Thema interessierte mich und tut es noch, denn wenn ich koche, habe ich diesen Aspekt natürlich im Auge.
Konkreter Auslöser war dann aber ein Projekt bei uns am Institut zum Thema Sojamilch. Wir haben uns deren Proteine physikalisch genauer angeschaut, denn sie zeichnen sich durch eine beeindruckende Stabilität aus. Vor diesem Hintergrund haben wir sie auch in vitro „abverdaut“, und zwar mit Enzymen in Form von Proteasen des Schweins. Das hat so gut geklappt, dass ich mir dachte, wenn sich der Verdauungsvorgang so schön im Labor nachstellen lässt, dann geht das auch mit weiteren Molekülen, die wir tagtäglich essen.
Als ich mich dazu in ernährungswissenschaftliche Studien eingelesen habe, ist mir aufgefallen, wie wenig darin der Aspekt der Verdauung berücksichtigt wird, also die physiologische Betrachtung, welche Nährstoffe sich der Körper überhaupt verfügbar machen kann. Dieser Fragestellung bin ich dann wissenschaftlich nachgegangen. Meine Studien-Ergebnisse habe ich zunächst in der Publikation „Biophysik der Ernährung“ veröffentlicht, einem Fachbuch mit 500 Seiten. Daraus entstand dann „Einfach essen“ als populärwissenschaftliches Buch.
Katharina: Beim Lesen Deines Buches ist mir klar geworden, wie viele ernährungswissenschaftliche Aussagen oder Legenden permanent kommuniziert werden, die nicht den Tatsachen entsprechen. Wie kommt es zu diesem eklatanten Missverhältnis?
Thomas: Die Ernährungswissenschaft hat sich lange Zeit auf Befragungs- bzw. Beobachtungsstudien verlassen. Viele basieren auf schlechten bzw. unklaren Statistiken. Das Problem ist aber vor allem, dass sich deren Aussagen halten.
Ein gutes Beispiel dafür ist, dass man immer noch liest, dass gesättigte Fettsäuren ungesund sein sollen, weil es negative Folgen für den Cholesterinspiegel hat.
Das ist aber nicht richtig. Das erklärt sich, wenn man sich die Hauptaufgabe von Fett vor Augen führt. Die zentrale Funktion der Fettsäuren liegt nämlich in der Zellmembran. Diese schützt unsere Milliarden Zellen und deren Produktivität. Die Membran besteht aus einem Molekül und zwei Fettsäuren. Für sie ist wichtig, dass sie immer schön fluffig ist, vereinfacht ausgedrückt. Das erfordert ungesättigte und gesättigte Fettsäuren. Das Cholesterin nimmt also eine wichtige Aufgabe wahr. Deswegen stellt die Leber sie en masse her. Sie produziert aber weniger, wenn wir einen Batzen Butter essen.
Katharina: Du berücksichtigst in Deinen Ausführungen neben naturwissenschaftlichen auch kulturelle und soziologische Aspekte. Warum sind für Dich als Physiker auch diese Aspekte für das Verständnis guter Ernährung wichtig?
Thomas: Essen ist ein kultureller Handlungsakt wie auch das Kochen. Seit uns das Feuer begleitet, hat es uns als Menschheit geprägt und neue soziologische Strukturen hervorgebracht. Man saß plötzlich nicht nur darum herum, auch mit der Verdauung hatten wir es fortan infolge der gegarten Lebensmittel leichter. Später im Neolithikum setzte sich das fort mit den ersten Fermentationstechniken.
Thomas A. Vilgis:
„Es kommt nicht nur auf den Nährstoffgehalt von Lebensmitteln an, sondern auch darauf, ob die Zubereitungsmethode die Mikronährstoffe für den Menschen überhaupt verfügbar macht.“
Das ist bis heute so: Wir sitzen am Tisch, wir sitzen an der Wärmequelle. Für mich ist das Thema Essen so transdisziplinär, dass man Essen nicht auf Ernährungswissenschaften oder Physik reduzieren kann. Das erkennt man auch an den deutlichen Schnittstellen. Das macht es so spannend.
Katharina: In Deinem Buch widmest Du Dich auch den Themen Brot und Weizen, die aktuell in der Diskussion sind. Welche Schnittstellen zwischen Ernährung und Kultur zeichnet sie aus?
Thomas: Für mich gibt es dazu ein besonders eindrückliches Beispiel. Im Weizengürtel des Neolithikums, der sich von China über den Nahen Osten bis ins gemäßigte Klima von Mitteleuropa erstreckte, entdeckte man, dass man aus Einkorn und Urweizen elastische Teige machen konnte, die sich zudem säuern ließen.
Der Vorteil gegenüber ungesäuerten Fladenbroten liegt auf der Hand: Sauerteig kann auch ein paar Tage aufgehoben werden, weil er wegen des niedrigen pH-Werts kaum verdirbt. Wichtige Voraussetzung war aber Weizen.
Die Folge war, dass man damals bereits begann, systematisch diese Getreideart zu züchten. Auch deshalb verfügt Weizen heute über die längste Gen-Sequenz und nimmt bis heute diesen hohen Stellenwert ein.
Katharina: Wir leben in einer Zeit, in der Hygiene eine zentrale Voraussetzung ist bei der Herstellung von Lebensmitteln. Für den Sauerteig sind aber Bakterien und Hefen wichtig. Manche empfehlen daher, den Teig mit der Hand zu bearbeiten. Macht das physikalisch einen Unterschied?
Thomas: Ja, definitiv. Ich habe diesen Aspekt für das Buch anhand von Grunduk probiert, einem salzlos fermentierten Kraut, das ursprünglich im Himalaja zubereitet wird. Dafür habe ich zwei unterschiedliche Portionen mit Spinat hergestellt. Die eine habe ich steril mit Gummihandschuhen gezupft, die andere habe ich an meiner Haut abgerieben (lacht), um alles mitzunehmen, was mein Hautmikrobiom nach einem Arbeitstag so mit sich rumträgt. Der Unterschied war deutlich – nicht so sehr im Geschmack, denn beide sind gesäuert, aber im Geruch. Das Aromenspektrum des nicht steril zubereiteten Grunduks war viel breiter – kein Vergleich.
Der Grund dafür sind manche Hefen und andere Mikroorganismen. Sie helfen mit, viele Aromen zu bilden. Normalerweise verhindert Salz ihre Gärung, denn sie sind nicht salztolerant. Aber da Grunduk salzfrei zubereitet wird, ist sein pH-Wert hoch und die Hefen unterstützen den Prozess der Aromabildung. Man kann das selbst einmal ausprobieren, indem man den Sauerteig an der Haut rollt, um ein paar mehr Kulturen mitzunehmen.
Die Zusammenhänge der Aromabildung und Bakterien sind derzeit übrigens ein großes Forschungsthema in der Molekularbiologie.
Katharina: Ein Thema Deines Buches und Deiner Forschungsarbeit ist auch die Fermentation. Neben dem Gewinn für den Genuss, warum ist die Methode wichtig für uns?
Thomas: Fermentierte Lebensmittel sind ein Stück weit verträglicher und vielleicht auch gesünder. Denn diese Methode hilft dabei, dass bestimmte Nährstoffe erst verfügbar werden. Denn das ist häufig nicht der Fall, wenn sie roh verzehrt oder durch die klassischen Kochtechniken zubereitet werden. Das gilt übrigens mit ein paar Ausnahmen auch beim schonenden Garen, wie es insbesondere die Ernährungswissenschaften empfehlen.
Vielen Menschen ist nicht klar: Es kommt nicht nur auf den Nährstoffgehalt von Lebensmitteln an, sondern auch darauf, ob die Zubereitungsmethode die Mikronährstoffe für den Menschen überhaupt verfügbar macht. Das zu wissen, ist gerade beim Thema fleischlose Ernährung wichtig. Deswegen ist es zum Beispiel notwendig, dass Möhren mit Fett wie Butter sehr lange gekocht werden.
Katharina: Herzlichen Dank!
Veröffentlicht im Februar 2021
Sehr interessantes Interview.
„Deswegen ist es zum Beispiel notwendig, dass Möhren mit Fett wie Butter sehr lange gekocht werden.“
Ist es dann nicht verkocht?
Es geht um das Betakarotin der Möhren, eine Vorstufe von Vitamin A. Damit der Körper es aufnehmen kann, braucht es Fett.
Dank Dir für das Feedback, Thea!