Man muss nicht immer essen. Wirklich. Man kann ja auch mal etwas übers Essen lesen. Ich begleite den Wiener Journalisten Christian Seiler auf zwölf “Reisen zum Geschmack”. Kann es ein besseres Ziel geben?
Sei es beim Pizzaessen in Neapel oder auf Schnitzeljagd in Wien, bei der Suche nach dem ultimativen kulinarischen Kick lerne ich durch Seilers Augen eine Reihe neuer Highlights kennen. Nur schade, dass mein knurrender Magen auf den nächsten Urlaub vertröstet werden muss. Vielleicht kann der Verlag mit ein paar Kernphysikern ein innovatives Konzept erarbeiten, das einem erlaubt, sich beim Lesen an den Ort des Geschehens zu beamen? Bis es soweit ist, bleibt mir als Trost, dass sich bei dieser Art des Restaurantbesuchs endlich die alte Küchenweisheit “außer Hause dickt nicht” bewahrheitet.
Seilers Europareise setzt ganz eigene Schwerpunkte. In Dänemark begeistern ihn das weltbeste Restaurant Noma ebenso wie das ganz besondere Smørrebrød Lokal von Frau Davidsen, wo er übrigens neuer Rekordhalter ist. Denn er hat dort ganze vier Riesenbrötchen und einen Apfelkuchen vertilgt. Über Lissabon, München, Stockholm, Paris, Sardinien und die Côte d’Azur geht es weiter zu meinen persönlichen Reisehighlights. Darunter: London. Nach dem Besuch beim Smoothie Hersteller Richard verlangt es Seiler nach Biss und Schärfe, ein indisches Probiermenu kann Abhilfe schaffen:
Als ich den ersten Gang, den Koliwada Shrimp mit dem süßen Chili-Chutney, verzehrt hatte, bat ich den Kellner um etwas Weißbrot und Joghurt. Er nahm die Bitte als Kompliment: Ist es wahr, dass wir Sie erhitzen durften? O ja, Sahib, o ja. Das Essen war fantastisch, die Tiger Prawns vom Holzkohlengrill kamen mit einer Erdnusssauce, die mir die Flammen aus den Ohren schickte, der Fisch mir Fenchelsamen und Gewürzen aus Goa setzte meinen Oberkörper in Brand, und als ich schließlich das Seekh Kebap von der Ente verzehrte, mit grünen Chilis und einem grandiosen, feurigen Ananas-Chutney, bedankte ich mich still bei Richard, dass mein Körper mit literweise Smoothies auf die Neutralisierung dieser Flut an Schärfe und Aromen vorbereitet war. Nur deshalb war ich in der Lage, mit dem besten Appetit auch noch das südindische Lammcurry zu verzehren und noch etwas Wein zu bestellen. Wieder sah mich der Kellner mit anerkennendem Blick an. Wenn du Wein bestellst, dachte er, ist dein Gaumen noch okay. Respekt. (S. 105-106)
In London besucht der Autor auch Jamie Oliver, den er für die Zeitschrift Nido interviewt (hier nachzulesen) und Fergus Henderson’s Restaurant St. John, dessen Nose to tail eating Philosophie, dass also ein getötetes Tier respektvoll von Schnauze bis Schwanz aufgegessen wird, ihm aus der Seele spricht. Gefeiert wird diese neue Nachhaltigkeit mit geröstetem Knochenmark. Womit sonst.
Seilers Erzählstil ist ruhig und unaufgeregt, er formuliert seine Pointen weniger überspitzt als mancher Kollege. Braucht er auch nicht, denn er erlebt so einiges, um das man ihn nur beneiden kann. Gastronomischer Höhepunkt für mich waren seine Abenteuer in Istrien. Dort gibt es Essen, dass so frisch und einfach ist, dass es gar nicht erst gekocht werden muss:
Damirs Mundwinkel wanderten von der Sehr-cool-Position in die Sehr-cool-und-sehr-zufrieden-mit-sich-selbst-Position. “Niemand hat bessere Seezungen als mein Fischer.” Das ahnten wir schon. “Normal.” Damir rückte einen kleinen Wagen an den Tisch und nahm das Messer zur Hand. Zuerst zog er der Seezunge die Haut ab, dann trennte er mit sicherem Schnitte die Filets von der Karkasse. Er musterte das Fleisch – die Mundwinkel waren inzwischen auf Sehr-cool-und-sehr-aufmerksam-Position – und schnitt alles ab, was nicht blütenweiß aussah. Nun teilte Damir das Filet in mundgerechte Stücke. Er griff sich die Zitrone, halbierte sie und presste reichlich Zitronensaft auf den rohen Fisch. Meersalz, zwei Drehungen aus der Pfeffermühle, zuletzt noch ein kräftiger Schuss Olivenöl, istrische Herstellung. Selekcija Belić. Fertig. Guten Appetit! Der Eigengeschmack des Fisches war von rarer, natürlicher Eleganz. Zitronensaft und die fruchtige Schärfe des Olivenöls besorgten die sensorische Hintergrundmusik, während die ungewohnte, feste Konsistenz des rohen Fisches sich mit dessen Aromen zu einem archaischen und doch zarten Erlebnis verbündete.
Ich fürchte, nach diesen literarischen Appetithäppchen brauche ich jetzt wenigsten eine Winzigkeit aus der heimischen Küche. Manchmal muss man eben doch essen…
Veröffentlicht im Dezember 2011